Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Marikana and the like – was hat Marikana mit Bisho zu tun?

Wer Südafrikas Geschichte nacherzählt, tut dies oft anhand bedeutender Ereignisse. Nicht selten sind dies Ereignisse, die Ausgangspunkt der multiplen Traumata vieler Menschen in diesem Land sind,   .Dazu gehören die Massaker an der Bevölkerung, an meist friedlich für ihre Rechte demonstrierenden Menschen, oft Frauen und Kinder:  Sharpeville, Soweto, Boipatong, Marikana.

Prof. Tinyiko Maluleke von der Universität von Pretoria geht weiter zurück, denn bereits vor Beginn der offiziellen Apartheid in den 1940er Jahre gab es erinnerungswürdige, schicksalsträchtige Massaker, die die südafrikanische Geschichte beeinflussten. Doch auch für Maluleke hätte Sharpeville ein eindeutiger Wendepunkt sein müssen, der den folgenden Massakern hätte vorbeugen müssen.[1] Denn ab diesem Zeitpunkt wusste die Welt, was in Südafrika passiert. Bis zu diesem Datum war der Widerstand vorwiegend gewaltlos gewesen. Erst danach gründete der ANC unter Nelson Mandela den bewaffneten Widerstand Umkhonto we Sizwe (Speer der Nation).

Maluleke geht in seiner Analyse weiter in die post-Apartheid Zeit: hätte Marikana verhindert werden können, wenn die früheren Massaker als solche anerkannt und aufgearbeitet worden wären und sie die Geister der Verstorbenen bei jeder Nennung des Ortsnamens nicht aufstöhnen?

„So haben wir uns beispielsweise dafür entschieden, das Datum des Sharpeville-Massakers als Tag der Menschenrechte zu bezeichnen. Die gleiche Zurückhaltung, Marikana als Massaker zu bezeichnen, zeigt sich auch im Abschlussbericht der Farlam-Kommission. Sie sprechen nur von den `... tragischen Vorfällen in der Lonmin-Mine in Marikana´, als ob Marikana eine Naturkatastrophe wäre!“

30 Jahre Bisho-Massaker

Massaker großen Ausmaßes gab es in der Geschichte Südafrikas in verschiedenen Phasen. Manche sind selbst Menschen, die sich mit der Geschichte dieses Landes auskennen, nicht so vertraut, dass sie sich an deren Jahrestage erinnern.

Vor dreißig Jahren, am Morgen des 7. September 1992, mitten im Übergang Südafrikas von der politischen Apartheid hin zu einem demokratischen System, versammelten sich 80.000 Demonstrant:innen in King William's Town im Eastern Cape – damals noch Ciskei. Eine breite Koalition aus lokalen Organisationen unter dem Banner des ANC hatten zu diesem Marsch nach Bisho aufgerufen, der Hauptstadt des ab 1981 nominell unabhängigen Homelands Ciskei.

Die Demonstrant:innen wollten in Bisho eine Volksversammlung abhalten und die Absetzung von Brigadier Gqozo fordern, dessen Militärregime trotz der Aufhebung des Verbots der politischen Organisationen im Jahr 1990 brutale Repressionen ausübte. Doch dazu kam es nicht, denn die Ciskei Defence Force (CDF) eröffnete das Feuer auf die unbewaffneten Demonstrant:innen. 29 Menschen wurden dabei getötet und mehr als 200 verletzt.

Auf nationaler Ebene waren gerade (Mai 1992) die CODESA-Verhandlungen (Kongress für ein demokratisches Südafrika) gescheitert, die Mehrheit der Bevölkerung war frustriert von den Verhandlungen der Eliten und wollten endlich konkrete Ergebnisse sehen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich ihre alltägliche Lebenssituation immer mehr zuspitzte.  Stimmen mehrten sich, die mit großen Massendemonstrationen einerseits den Druck auf die Verhandlungen erhöhen wollten, indem sie Städte unregierbar machten. Andererseits waren diese Märsche auch ein probates Mittel, das von den Verhandlungsführern des Widerstands genutzt wurde, um  mit der Basis in Kontakt zu bleiben und sich die nötige Legitimation von ihnen zu holen. So wurde diese lokale Mobilisierung unter regionaler Führung von der nationalen Politik beeinflusst, als die Verhandlungen für eine Transformation des politischen Systems einen kritischen Punkt erreichten. Denn es galt, sich nicht nur gegen die Vorherrschaft der weißen Minderheit durchzusetzen, sondern auch gegen die schwarzen Eliten der Homelands, allen voran Magosuthu Buthelesi, die ihre Macht und ihren Einfluss in einem demokratischen Südafrika schwinden sahen und dem entgegenzuwirken versuchten. Der Aufstand gegen eine selbstreferentielle schwarze Führung, ist eine erste Parallele zu Marikana , denn der Streik der Minenarbeiter in 2012 richtete sich unter anderem auch gegen die Minengewerkschaft NUM, die sich weigerte, sich die Forderungen der Rock Driller aus den Platinminen nach mehr Lohn zu eigen zu machen und offiziell einen Streik auszurufen. Sie war als einzige Gewerkschaft damals in der Lage, Verhandlungen mit dem Management zu führen. Doch ein Streik hätte ihre privaten Aktien gefährdet, ihre Gewinne geschmälert. Sie stellte sich auf die Seite des Kapitals, der Elite, der Ausbeutungsstrukturen, zusammen mit der demokratisch gewählten Regierung, für deren Einführung die Menschen in Bisho demonstrierten und starben.

Damals in Bisho war sich der Widerstand über die Vorgehensweise nicht einig. Mitglieder der United Democratic Fron UDF, die unter den Repressalien des Ciskei-Regimes zu leiden hatten, wollten dieses durch die Proteste stürzen und durch eine Übergangsregierung ersetzen. Die nationale Führung des ANC hingegen, „die sich von einem versöhnlichen Ansatz leiten ließ, der von älteren Politikern aus dem Gefängnis und dem Exil bevorzugt wurde, interveniert, um Gqozo zu beschwichtigen und die Radikalen in der Grenzregion zu zügeln, um den Schwung der zerbrechlichen nationalen Verhandlungen zu erhalten.“[2]

Landesweit nahmen diese Art der Massenproteste zu und auch der Marsch im September nach Bisho hatte in dieser Region Vorgänger, bei denen sich bereits Konflikte zwischen den Demonstrierenden und der bewaffneten Bereitschaftspolizisten der Ciskei abzeichneten. Gqozo wollte mit allen Mitteln verhindern, dass die Demonstrant:innen Bisho erreichten. Trotz der drohenden staatlichen Gewalt hielten die Organisator:innen an den Plänen fest in der Annahme, dass die lokale Polizei nicht auf die „eigenen“ Leute schießen würde – eine Annahme, die sich auch in späteren Massakern wie etwa Marikana als falsch herausstellen sollte.

Eine weitere Parallelität zu Marikana liegt darin begründet, dass die Polizei aufgrund von Instruktionen einerseits und aufgrund der Angriffe auf Offizielle im Vorfeld andererseits davon ausging, angegriffen zu werden. Als die Demonstrant:innen den Grenzzaun[3] durchbrachen, wurden sie von einem Kugel- und Granatenhagel empfangen – die Polizei schoss aus angeblicher „Notwehr“. Weder die Marschierenden in Bisho noch die streikenden Minenarbeiter in Marikana führten Waffen mit sich.

Zivilgesellschaftliche Protestformen gegen Eliten

Die Massenaufmärsche in der Ciskei waren getragen von politischen Traditionen der Bürgerorganisationen und hatten das Ziel, durch die Ausübung der direkten Demokratie eine Übergangsverwaltung in der Ciskei zu wählen. Ein wichtiger Bezugspunkt war die "Open City"-Kampagne, mit der in Städten wie Kapstadt lokale demokratische Verhandlungen eingeleitet worden waren.

Die südafrikanische Zivilgesellschaft stemmt sich immer wieder gegen Bevormundung aus elitären Kreisen – seien es politische Parteien, Regierungen oder etablierte Gewerkschaften – und verlangt echte Mitbestimmung. Lautstark und teilweise auch gewaltvoll, weil aus der Erfahrung heraus sie sich sonst kein Gehör verschaffen kann. Auch bei den in den 2000er Jahren massiven sogenannten Service Delivery Protesten ging es um Mitbestimmung der Betroffenen etwa beim Umbau von Townships, der drohenden Gentrifizierung von Stadtvierteln oder die Frage, welche Toilettensysteme eingebaut werden sollen: „Nothing for us without us!“ Auch hier ist die Bezeichnung der Proteste von Anfang an irreführend gewesen. Es ging den Protestierenden nicht um die Hinterfragung der Notwendigkeit dieser Serviceleistungen vom Staat, sondern um die Art und Weise. Wer legte die Priorisierung fest und warum etwa müssen sich arme, oft marginalisierte Gruppen überhaupt solche Dienstleistungen erkämpfen? Es ist ein Aufbäumen gegen patriarchale Strukturen, die sich besonders im Shack Dwellers Movement Abahlali baseMjondolo manifestiert, dessen Führungen regelmäßig ihr Leben auf Spiel setzen, wenn sie sich gegen lokale Eliten zu behaupten versuchen.[4]

Durch die vielen Jahre der gewaltlosen Proteste zu Beginn der Apartheidzeit, bevor die staatliche Gewalt wie in Sharpeville ihr blutiges Gesicht zeigte, ist die südafrikanische Bevölkerung darin geübt , die Macht der Straße auszunutzen. Wohl wissend, dass dies für sie tödlich ausgehen könnte.

Die Debatte um die möglichen Folgen einer solchen Aktion war auch Thema nach dem Massaker von Bisho: hätte die Führung wissen müssen, dass scharf geschossen werden würde? Ist sie mitverantwortlich? In Marikana wurden Streikende mit einem aus der Apartheidzeit stammenden Gesetz[5] inhaftiert und angeklagt, weil ihre Aktion die Polizei „gezwungen“ habe zu schießen und sie daher für die Toten verantwortlich seien. Das Gesetzt gibt es bis heute, auch zehn Jahre nach Marikana.

Marikana hat vor zehn Jahren die südafrikanische Bevölkerung erschüttert und hat gezeigt, dass auch eine demokratische Regierung nicht immer davor schützt, bei der Einforderung verbriefter Rechte erschossen zu werden. Bei den Verhandlungen um ein neues Südafrika hatten sich die schwarzen Eliten einiger Homelands gegen eine Demokratisierung und damit eine Wiedereingliederung der Homelands in den südafrikanischen Staat gewehrt, weil sie damit Privilegien und Macht verloren hätten. Im Falle von Marikana ist die demokratisch gewählte Elite eine toxische Verbindung mit dem Kapital[6] eingegangen, auf Kosten der Bergleute und damit der Bevölkerung.