Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Mehr als eine Luftnummer? Südafrikanische Regierung will die Opfer von Marikana entschädigen

Mehr als eine Luftnummer?

Das Massaker von Marikana lässt die Regierung in Südafrika nicht los. Es vergeht kein Tag, an dem in irgendeiner Form nicht daran erinnert wird. Ob im Parlament, wo sich besonders der EFF (Economic Freedom Fighters, Kämpfer für ökonomische Freiheit) vorgenommen hat, jede Gelegenheit zu nutzen, um an diesem Vorfall das Versagen des ANC (African National Congress) immer wieder neu zu thematisieren, oder in den Medien, in denen Themen wie „State Capture“ jeden Tag für neue Schlagzeilen sorgen und „Marikana“ als Beispiel der Kollision zwischen Kapital und Staat angeführt wird, bleibt das Thema sehr lebendig. Die ANC-geführte Regierung spürt den Druck und würde gerne dieser Allgegenwärtigkeit von Marikana entgegen wirken, wenigstens aber sie eindämmen. Dies ist bislang nicht wirklich erfolgreich gelungen. Alle bisherigen Versuche sind fehlgeschlagen und haben die Debatten neu befeuert. Dies ist auch der Fall mit der Anfang April getätigten Ankündigung der Regierung, die Familien der Opfer von Marikana sowie die Überlebenden mit 1,17 Milliarden Rand entschädigen zu wollen. Dieses Versprechen war die erste Konkretion, die mit einer Zahl belegt wurde, welche eine Ankündigung vom Dezember 2016 mit Leben zu füllen versuchte. Am 11.12.2016 noch hatte Präsident Jacob Zuma lediglich versichert, dass die Regierung bereit dazu sei, die Familien von Opfern und Überlebenden zu entschädigen.

Es hat jedoch bis März gedauert, bis der Polizei-Minister Nathi Nhleko mit dieser oben genannten Zahl an die Öffentlichkeit ging. J. Zuma hat sich im Dezember 2016 in einer Rede im Parlament, in der er ein Update über die Schritte skizzierte, welche die verschiedenen Ministerien und Regierungsstellen unternommen hatten, um die Empfehlungen der Farlam-Kommission umzusetzen. Zu diesen Maßnahmen zählte u.a. die Einsetzung des Claassen Board of Inquiry, eine weitere Kommission, die den Auftrag hatte, die Rolle der zur Zeit des Massakers amtierenden Polizeikommissarin Riah Phiyega aufzuklären. Es ist eben diese Kommission, die sie für ihr Amt als nicht geeignet erklärt hat. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits seit ungefähr einem Jahr suspendiert. Des Weiteren ging Zuma darauf ein, dass im August 2015 der Ministerpräsident von North West Supra, Mahumapelo, ein Marikana Reconciliation, Healing and Renewal Committee etabliert hatte mit dem Ziel, Heilung, soziale Kohäsion und nachhaltigen Frieden in den vom Marikana Massaker betroffenen Gemeinden voranzubringen. Von diesem Komitee war bis dato nicht viel zu spüren. Die Gründung von immer mehr „Sonderarbeitsgruppen“ und „-kommissionen“ wird  in Südafrika im Allgemeinen mittlerweile als ein Versuch der Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen verpönt, die demokratisch legitimierten Kontrollinstanzen zu entmachten oder die Probleme möglichst durch lange Arbeitsprozesse in solchen Sonderkommissionen vergessen zu lassen.

Einige Initiativen im Blick auf Marikana sind in solche Versuche einzuordnen, den Druck der Öffentlichkeit zu besänftigen, indem die Regierung durch regelmäßige Ankündigungen den Eindruck erweckt, sich um das Problem zu kümmern. Nur, dass diese Strategie, die bei vielen anderen Themen sehr erfolgreich umgesetzt wurde, bei Marikana nicht gelingt, weil der ausgelöste Schock immer noch wirkt und entsprechend groß ist die Wachsamkeit derer, die ganz genau wissen wollen, was die Regierung im Umgang mit diesem brisanten Thema treibt. So war es auch nach der letzten Ankündigung, mit der die Regierung die oben erwähnte Summe in Aussicht stellte.  Wenn die Regierung, die zum ersten Mal eine konkrete Zahl in den Raum warf, die zu beeindrucken versuchte, hat sie ihr Ziel abermals verfehlt. Das KASA-Team war unmittelbar nach dieser Ankündigung zu Besuch im Südlichen Afrika. Nach Kommentaren und Reaktionen in den Medien zu urteilen, überwogen kritische Fragen, etwa danach, wie die Regierung auf diese Summe kam, ob sich der Preis eines Menschenlebens in Geld messen lässt und ob sie sich Gedanken über einen Verteilungsschlüssel gemacht habe. Vor allem fragten sich viele, ob dies nicht schon wieder ein Schlachtzug der Regierung zur Beruhigung der Gemüter war, ohne wirklich einen konkreten Plan im Hintergrund zu haben, wie die  konkrete Umsetzung erfolgen soll.  

Für das KASA-Team war der Partnerbesuch in Südafrika eine Gelegenheit, von den Menschen, mit denen wir seit 2012 für die Gerechtigkeit für die Opfer von Marikana zusammenarbeiten, direkt zu hören, was sie von dieser Initiative der Regierung halten. Bischof Jo Seoka, der für die Kampagne „Plough back the fruits“ in Südafrika eine der zentralen Figuren ist, analysierte, dass die Regierung über ihre Anwälte bereits im Dezember einen Vorschlag unterbreitet hatte, aber ohne die Familien der getöteten Minenarbeiter und die Überlebenden des Massakers zu konsultieren. Dieser Vorschlag der Regierung wurde zurückgewiesen. Sachverständige im Versicherungswesen wurden herangezogen, die andere Berechnungen machten. Daraufhin wurden Fragen an die Anwälte der Regierung und ihre Sachverständigen adressiert. Bis März, als der Polizeiminister den Vorschlag der Regierung offiziell machte, hatten Anwälte und Sachverständige auf die Fragen noch nicht geantwortet, betonte Bischof Jo Seoka. Niemand, ergänzte er, kann nachvollziehen, welche Methode und Kriterien die Regierung genutzt hat, um auf die Summe von 1,17 Milliarden Rand zu kommen. Im Namen derer, die sich mit den Opfern von Marikana solidarisieren, fügte er hinzu: „Wir sind der Meinung, dass diese Summe nicht ausreichend ist, da es viele Faktoren gibt, die zu berücksichtigen sind. Wir glauben nicht, dass es für das Leben von Menschen einen Preis gibt. Leben ist ein spezielles Geschenk, das nur von Gott gegeben wird. Dennoch gibt es konkrete Fragen im Hinblick darauf, wer alles von der Arbeit der getöteten Minenarbeiter abhängig war, als sie noch lebten. Wir sind der Meinung, dass diese Arbeiter ohne Provokation von ihrer Seite getötet wurden. Wären sie nicht getötet worden, wären sie noch da und hätten weiterhin ihre Arbeitskraft in den Dienst ihrer Angehörigen gestellt. Jede Ankündigung der Regierung, die vage bleibt und nicht erklärt, wie sie politikwirksam werden kann, ist wie Salz auf den offenen Wunden der betroffenen Familien“, urteilte er abschließend.

Das KASA-Team hatte zudem die Gelegenheit, mit zwei Mitgliedern vom Leitungsgremium der Khulumani Support Group Marikana zu besuchen. Auch dort war die Ankündigung der Regierung durchgedrungen. Wirklich daran glauben wollte hier aber niemand. Es wurde deutlich, dass das Verhältnis der Regierung zu der durch das Massaker geschädigten Communities so zerrüttet ist, dass es, mehr als eine Ankündigung einer Entschädigung, in welcher Höhe diese auch immer sein mag, bedarf, um es zu heilen. Im Gegensatz bestätigte sich in unserem Gespräch das, was Bischof Jo Seoka so deutlich formuliert hatte. Die anwesenden Witwen erinnerten uns an die Umstände, unter denen ihre Ehemänner getötet wurden und vor allem daran, dass sie gegen ihren Willen und nur, um überleben zu können, bei Lonmin arbeiteten. Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen in Marikana sind schlecht und ihre Kinder in Eastern Cape müssen ohne sie auskommen, was aus ihrer Perspektive die Zerstörung der Familie als Kern der Gesellschaft fortsetzt, die unter der Apartheid begonnen hatte.  Sie sehen keinen Grund dafür, Lonmin für irgendetwas Dankbarkeit erweisen zu müssen. Sie wiederholten, dass sie sich verpflichten, sich zu engagieren, bis die Wahrheit über das Massaker ans Licht kommt, die Regierung von Südafrika sich in aller Form entschuldigt und verspricht, dass nie wieder ein zweites Marikana stattfinden wird. Mzoxolo Madigwana, ein Minenarbeiter, der beim Streik 2012 an vorderster Front aller Kundgebungen war, wurde am 12. August 2012 durch neun Polizeikugeln getroffen.  Durch ein Wunder überlebte er und nach einem langen Krankenhausaufenthalt konnte er wieder Fuß fassen. In Marikana wird er „Dead walking man“ genannt. Er betonte während unserer Sitzung in der lutherischen Kirche in Marikana, dass ein wichtiger Aspekt des Kampfes der Überlebenden darin besteht, das Gerichtsverfahren gegen sie annullieren zu lassen. Sie werden nach wie vor strafrechtlich verfolgt und des Mordes bezichtigt. Dabei beruft sich die Regierung auf ein Apartheidgesetz, das damals nur verabschiedet wurde, um im Kontext des Anti-Apartheidkampfes die Schuld für alle Tötungen während Versammlungen durch die Polizei den Demonstranten zuzuweisen. Die Logik hinter diesem Gesetz war, dass die Polizei durch die Demonstranten, so auch in Marikana, keine andere Möglichkeit sah, als zu schießen. Die Regierung Südafrikas hat großes Interesse daran, diese Kriminalisierung der Überlebenden aufrechtzuerhalten, um ihre eigene Verantwortung im größten Massaker seit Ende der politischen Apartheid zu verschleiern. Für die angeklagten Überlebenden bedeutet dies nicht nur mit dem Schuldgefühl konfrontiert zu werden, an der Ermordung ihrer Arbeitskollegen und Freunde mitverantwortlich zu sein, sondern auch praktische Konsequenzen: sie werden, solange die Anklage nicht eingestellt ist, keine Chance haben, außerhalb ihrer jetzigen Arbeitsverhältnisse eine Arbeitsstelle zu finden. Aus diesem Grund ist es für sie überlebenswichtig, dass dieser ungerechte Prozess eingestellt wird.

Nach Austausch mit den Witwen, ehemaligen und aktuellen Minenarbeitern von Lonmin wurde dem KASA-Team klarer, dass die Regierung mit ihren regelmäßigen Auftritten zu Marikana eine Ankündigungspolitik betreibt, die nur weitere Frustrationen verursacht. Die Ankündigungspolitik scheint vom Druck der Öffentlichkeit getrieben zu sein. So ist auch etwa die Entschuldigung des Vize-Präsidenten Cyrill Ramaphosa einzuordnen, die er während einer Konferenz an der Rhodes Universität in Grahamstown Anfang Mai formulierte. Diese kam bei den Opfern und ihren Verbündeten so schlecht an, weil sie erst auf Nachfrage eines Studenten zustande kam. Hätte Cyrill Ramaphosa seit 2012 den Weg zu den Familien der Opfern und der Überlebenden gesucht, um sich von ihnen, wie er selbst formulierte, für die ungeeignete Sprache, mit der er die Streikenden 2012 beschrieb, zu entschuldigen, hätte er längst zur Versöhnung beigetragen. Erst der Druck der Öffentlichkeit, in diesem Fall Fragen der Studierenden, regte ihn dazu an, er könne nach Marikana fahren und mit den Opfern sprechen. Wäre das andersrum gelaufen: zunächst zu den direkt Betroffenen und dann in die Öffentlichkeit, hätte er wahre Größe gezeigt. Was er nun treibt, wird nur noch als Wahlkampfstrategie für die Präsidentschaft des ANC und des Landes, die er erringen wird. Für Cyrill Ramaphosa wie auch für die Regierung insgesamt gilt, was die Familien der Getöteten  und Überlebenden immer wieder betonen: „Nothing for us without us“.