Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Deutscher Genozid in Namibia: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen

Seit Beginn der Amtszeit der SPD/Bündnis 90/FDP-Koalition in Berlin hat das von den Grünen geführte Außenministerium im Blick auf den deutschen Genozid in Namibia zwischen 1904 und 1908 eine pragmatische Linie vertreten. Sie verweist auf das von Vertreter:innen der deutschen und namibischen Regierungen verhandelte Versöhnungsabkommen. Aus der Perspektive des Auswärtigen Amtes wurde die Genozide-Frage mit dieser ‚Joint Declaration‘ (JD) gelöst, zu regeln blieben nur noch Modalitäten zur Umsetzung. Damit sind die Grünen in der Regierung nicht nur in Interessendisharmonie mit den Stimmen der Ovaherero, Nama und vieler engagierten Solidaritätsgruppen in Deutschland, sondern auch mit der Linie, die sie selbst vor ihrer Regierungsverantwortung vertraten. Damals initiierten oder unterstützten sie kritische Kleinanfragen an die Bundesregierung und beteiligten sich in Kongruenz mit den Opfern des deutschen Genozids im heutigen Namibia an der gesellschaftlichen Debatte. Heute argumentieren sie mit Staatsräson und lassen das Prinzip der Kontinuität staatlichen Handelns walten. Dies zeigt wieder, dass der Weg zwischen gut begründen politischen Ansprüchen und deren realpolitischer Absenkung bei den Grünen sehr kurz ist. Aber der Druck wächst und er wird weiterwachsen.

Die Auseinandersetzung um den deutschen Genozid in Namibia hat ein Momentum

In Fachkreisen scheint die Auseinandersetzung mit dem deutschen Genozid in Namibia ein neues Momentum zu erleben. Dies hat mit einigen Faktoren zu tun, die nur zufällig zeitlich nah beieinander liegen. Zunächst zu erwähnen ist die Klage, die der namibische Anwalt Patrick Kauta mit seinen Kolleg:innen im Januar gegen die Spitzen des Staates, bestehend aus Präsident, Regierung, Parlamentspräsident, Parlament und Generalstaatsanwalt eingereicht hat. Aus ihrer Perspektive ist die "Gemeinsame Erklärung" Deutschlands und Namibias zum Völkermord an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika rechtswidrig. Somit wird nun auch auf juristischer Ebene das verhandelt, was Vertreter:innen der Ovaherero und Nama seit Bekanntgabe der JD thematisieren; die Joint Declaration verstößt gegen eine Resolution des Namibischen Parlaments von 2006. In dieser ist deutlich festlegt, dass die Nachfahren der Opfer in den Verhandlungen mit Deutschland federführend sind, während die Regierung Namibias eine Begleitungsfunktion übernehmen soll. Die Klage fand eine gute Resonanz in der deutschen Medienlandschaft und wird, für die nächsten Monate und möglicherweise Jahre, die Auseinandersetzungen um den deutschen Genozid in Namibia mit prägen.

Mitte März diesen Jahres startete der Film „Der Vermessene Mensch“ des Regisseurs Lars Kraume in den deutschen Kinos. Der Filmstart wurde an verschiedenen Standorten von Podiumsdiskussionen und Informationsveranstaltungen begleitet, die die Kinobesucher:innen über die Hintergründe des Genozids und den aktuellen Stand der Verhandlungen aufklärten. Unabhängig von allen Kontroversen, die dieser Spielfilm mit seiner dezidierten Täterperspektive auf den Genozid, verursacht hat, gilt es festzuhalten, dass das Timing nicht besser hätte sein können. Dank diesem Film ist es gelungen, viele Kinobesucher:innen zu sensibilisieren, die bis dahin gar nicht in Berührung mit dieser Thematik kamen. Es ist ein starkes Zeichen, dass dieser Film mit Szenen vermessener Schädel der Ermordeten auf der Shark Island (Haifischinsel) im Südwesten Namibias endet, denn diese Insel bezeichnet den nächsten Schritt des Momentums rund um den Genozid, sowohl in Namibia als auch in Deutschland.

Am 23.4. enthüllten Nachfahren der Opfer des Genozids an den Nama und Herero in einer Zeremonie auf eben dieser Insel, gelegen vor der Stadt Lüderitz, ein Mahnmal im Gedenken an den Völkermord. Verschiedene deutsche Solidaritätsgruppen waren präsent, von denen einige direkt zu der Ermöglichung der Aktion beitrugen. Die Haifischinsel war Standort eines Konzentrationslagers der damaligen deutschen Kolonialtruppen in welchem etwa 4000 Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 ermordet wurden. Die Vertreter:innen der Ovaherero und Nama organisieren in jedem Jahr Gedenkzeremonien zu verschiedenen Anlässen, damit der Genozid und seine Gräueltaten nicht vergessen werden; die Errichtung des Mahnmals markiert nun einen buchstäblichen Meilenstein in der Erinnerungskultur Namibias. Noch während die Bilder und Redebeiträge der Veranstaltung um die Welt gingen, wurde der Bericht von sieben UN-Sonderberichterstattern zur Joint Declaration bekannt gegeben. In diesem wird der Verstoß der JD gegen UN-Konventionen, aufgrund fehlender Repräsentation der Ovaherero und Nama durch selbstgewählte Vertreter*innen bei den Verhandlungen, fehlender Beschlüsse zur direkten Entschädigung der betroffenen Communities, sowie einer lediglich bedingten Anerkennung des Völkermordes, kritisiert. Deutschland und Namibia werden nahegelegt, die Verhandlungen erneut zu öffnen.

Interessanterweise werden von den Sonderberichterstattern die gleichen Argumente angebracht, die sowohl gewählte Vertreter:innen der Ovaherero und Nama als auch die Solidaritätsgruppen in Deutschland seit Bekanntgabe der JD geltend machen. Mittlerweile liegen die Antworten der Regierungen Namibias und Deutschlands auf den Bericht der UN-Sonderberichterstatter vor; beide Regierungen wollen keinen Verstoß gegen internationales Recht erkennen. Während Deutschland die Verantwortung für die Teilhabe betroffener Communities an Namibia schiebt und diese auch als erfüllt ansieht, versteckt sich die namibische Regierung hinter dem altbekannten Vorwand der Bewahrung einer nationalen Einheit. Die Argumentationslinien beider Regierungen, die sich abgestimmt zu haben scheinen, sind alles andere überzeugend, besonders nicht für die Communities der Ovaherero und Nama.

Der Kampf geht weiter

Auch nach den unzufriedenstellenden Antworten beider Regierungen auf die UN-Sonderberichterstatter wiederholen die Vertreter:innen der Ovaherero und Nama ihr Motto “Anything for us without us is against us“. Für sie bleibt die Forderung: eine neue Verhandlung, welche Transparenz und Subjektsein der direkt betroffenen Gruppen garantiert. Solange dies nicht der Fall ist, wird der Kampf für vorbehaltlose Anerkennung des Genozids, Entschuldigung und Reparationen per Gerichtsweg, im Parlament, auf den Straßen und internationalen Foren fortgesetzt.