Ein Problem ist, dass viele von denen, die sich in diese Prognosen wagten, von einem homogenisierten Afrika sprechen, welches so nicht existiert. Die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Kontinents zeigt sich nicht nur am unterschiedlichen Grad der Betroffenheit durch die Corona-Pandemie, an der unterschiedlichen Qualität der vorhandenen Infrastrukturen im Gesundheitswesen und am Organisierungsgrad des Gesundheitswesens, sondern auch an den Reaktionen auf die Corona-Pandemie. Neben Ländern wie Tansania, die es nicht für notwendig gehalten haben, das öffentliche Leben komplett herunter zu fahren, ist zu beobachten, dass es eine Reihe afrikanischer Regierungen gibt, die verhältnismäßig früh drastische Maßnahmen getroffen haben: der internationale Flugverkehr wurde unterbrochen, ein nationaler Lockdown oder umfassende Sicherheitsregeln wurden angeordnet. Dies erklärt zum Teil, warum bisher keine afrikanischen Länder unter den Epizentren der Pandemie zu finden sind.
Krise als Offenbarung der Verletzlichkeit und der Versäumnisse
Aber diese niedrigen Corona-Zahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass ausgerechnet die benannten Schutzmaßnahmen vielen Menschen die Verdienstmöglichkeiten rauben. Dass vielerorts der Corona-Schutz selbst so lebensbedrohlich wird, hat mit prekären Lebenssituationen zu tun, deren Ursache nicht Corona ist, sondern andere langjährige Prioritätssetzungen und (Fehl-)Entscheidungen. Es fehlt an sozialen Sicherungssystemen und an Ersparnissen, die den Menschen in Krisenzeiten ein Leben in Würde ermöglichen würden, ohne jeden Tag arbeiten zu müssen. Vor allem in der Ernährungslage offenbart sich jetzt die Verletzlichkeit vieler Länder des Kontinents, die „Dinge produzieren, die sie nicht konsumieren und Dinge konsumieren, die sie nicht produzieren“ (Julius Nyerere).
Jenseits der nackten Zahlen der Infizierten, die zumindest bis jetzt verglichen mit anderen Teilen der Welt weniger Anlass zu Sorgen geben, ist es die eine vielschichtige Prekarität, die in vielen Ländern des Kontinents von sich reden lässt: nationale Regierungen, die in vielen Ländern keine Reserven haben, um die sozialen Kosten der im Kampf gegen COVID-19 beschlossenen Maßnahmen zu finanzieren. In vielen afrikanischen Ländern offenbart die aktuelle Krise, dass sich besonders die rohstoffreichen Länder des Kontinents zu sehr auf die Einnahmen aus Rohstoffen verlassen haben. Wirtschaftliche Diversifizierung wird seit Jahren immer zu Wahlkampfzeiten, bei fallenden Rohstoffpreisen - allen voran den Ölpreisen und bei allen Gipfeltreffen der regionalen Zusammenschlüsse und der Afrikanischen Union –
als dringende gemeinsame Agenda heraufbeschworen. Bis auf ein paar Länder wie Mauritius, Südafrika und Botswana, die interessante Ansätze eingeleitet haben, ist diese Entwicklung in den meisten Ländern in den Kinderschuhen steckengeblieben. Mit der Covid-19-Pandemie sind die globalen Lieferketten zusammengebrochen, die Nachfrage nach Rohstoffen ist dramatisch gesunken und damit auch die Preise. Afrikanische rohstoffreiche Länder leiden besonders stark darunter. Die Corona-Krise offenbart die strukturelle Krise, die diese Länder und ihre jeweiligen regionalen Zusammenschlüsse seit Jahrzehnten erleben. Aus diesem Grund machen sich auf dem Kontinent jetzt viele Stimmen bemerkbar, die dafür plädieren, die aktuelle Krise als Chance für tiefgreifende Veränderungen zu nutzen.
Krise als Chance für tiefgreifende Veränderungen
In einem Artikel mit dem Titel „Krise und die Zeit nach der Krise in Afrika: Was wäre, wenn der Wandel jetzt stattfände?“ begrüßt die in der Forschungsabteilung der Afrikanischen Entwicklungsbank arbeitende senegalesische Ökonomin Linguère Mously Mbaye die von vielen afrikanischen Regierungen als Antwort auf die aktuelle Krise ergriffenen Maßnahmen: „Krisenmanagement ist notwendiger denn je“, schreibt sie. Sie warnt aber davor, Krisenmanagement mit langfristigem Regierungsmodus zu verwechseln. Für sie sollte es vielmehr darum gehen, aus dieser Krise die notwendigen Lektionen zu ziehen: „Diese Krise erinnert uns ständig daran, dass eine Wirtschaftspolitik, die nicht das Wesentliche in den Mittelpunkt stellt, nicht nachhaltig ist. Es ist an der Zeit, dass die afrikanischen Länder massiv und vor allem effizient investieren, sowohl in Humankapital durch Gesundheit und Bildung als auch in die Entwicklung lokaler und regionaler Wertschöpfungsketten, um strukturelle Veränderungen einzuleiten.“
Für L.M. Mbaye sollten in dieser Krise die Fundamente für den Aufbau funktionierender Systeme in den verschiedensten Bereichen gelegt werden: „Im Gesundheitsbereich geht es zum Beispiel darum, die afrikanische Pharmaindustrie zu finanzieren, ihre Beziehungen mit den modernsten Forschungszentren zu koordinieren und nicht zu vergessen, die lokalen Pharmakopöe einzubeziehen, damit unsere Forscher*innen klinische Studien durchführen und ihre Behandlungen mit den strengsten wissenschaftlichen Methoden validieren lassen können. Wir sprechen oft über die Bedeutung der Ernährungssouveränität, aber diese Krise offenbart auch die Bedeutung der `gesundheitlichen Souveränität´. Im Bildungssektor ist es unerlässlich, in die Qualität der Ausbildung zu investieren, die den Bedürfnissen unserer Volkswirtschaften entspricht. Hier geht es darum, unsere nationalen und regionalen wirtschaftspolitischen Prioritäten aufrichtig neu zu definieren.“
Die aktuelle Corona-Krise zeigt, wie wichtig technisches Know-how und eigene Produktionskapazitäten in afrikanischen Ländern in Krisensituationen sein können. Die Abhängigkeit von verarbeiteten Produkten aus anderen Weltregionen hat sich in der aktuellen Krisensituation durch den Anstieg der Preise deutlich spürbar gemacht. Sie ist Bestandsteil einer Außenorientiertheit, welche der Entstehung robuster nationaler und regionaler Binnenmärkte immer schon im Wege gestanden hat. Für die Überwindung dieser Außenorientiertheit ist Bildung als Ort der Ausprägung des Mindsets von zentraler Bedeutung. Dabei geht es nicht nur darum, Bildung ausgehend von den lokalen Potentialen und den lokalen Bedürfnissen zu gestalten, sondern auch darum, sie in einen Gesamtkontext der gesellschaftlichen Neubestimmung einzubetten. Gemeint dabei ist „die Erinnerungsarbeit, die Arbeit an der Geschichte und an der Versöhnung mit den vielfältigen Quellen der eigenen Identität. Diese Arbeit beinhaltet auch ein Entstauben und ein Aussortieren. Sie ist angesagt, wenn man jene Beziehung zu sich selbst neu artikuliert hat, die durch Jahrhunderte der Entfremdung gestört worden ist.“[1] Die Heilung der Beziehung zu sich selbst ist eine wesentliche Aufgabe für „die Wiederherstellung des Vertrauens in uns selbst“, die aber in Afrikas postkolonialer Geschichte immer vor sich her geschoben wurde. Vertrauen ist die Basis, auf deren Grundlage die Menschen in Afrika autonom definieren können, was sie sind und in welchen Arten von Gesellschaften sie leben wollen. Felwine Sarr sieht es für die Menschen im Süden, „die in erzwungener Kargheit leben“, als dringende Aufgabe an, „auf das Traumbild der westlichen industriellen Modernität und dieses Modells der Zivilisation“ zu verzichten und eine andere zu erfinden. Und er sieht in der aktuellen Krise eine Gelegenheit dafür[2].
Das andere Afrika im Entstehen
Dieses andere Afrika ist nicht ein Wunsch, es entsteht jeden Tag durch die Initiative zahlreicher engagierter Menschen, meint L.M. Mbaye: „Trotz aller Schwierigkeiten gibt es ein Afrika, das nicht wartet, das bereits mit Willenskraft und Selbstaufopferung am Werk ist. Wir sehen es oft nicht, und wir verschaffen ihm auch innerhalb des Kontinents nicht genug Gehör, aber das bedeutet nicht, dass es nicht existiert. Dieses Afrika verdient es, ins Rampenlicht gerückt zu werden. Es verdient eine Politik, die seinen Ambitionen gerecht wird, aber dieses Afrika hat auch bereits bemerkenswerte Initiativen in Gang gesetzt“[3]. L.M. Mbaye will damit nicht den Eindruck erwecken, dass die im Krisenmodus entstandenen isolierten Initiativen bereits den strukturellen Wandel einleiten werden, den die Länder des Kontinents benötigen. Sie sieht darin lediglich ermutigende Zeichen dafür, „dass der Wandel nicht nur möglich, sondern auch bereits begonnen hat“. Sie ist der Überzeugung, dass die Beschleunigung des Wandels des Kontinents vorangetrieben werden kann, wenn es gelänge, Initiativen, die im Kleinen entstehen, auf die nationale, regionale und kontinentale Ebene zu übersetzen. Damit ist sie nicht allein, sondern im Einklang mit Stimmen von Basisgruppen und Intellektuellen quer durch den Kontinent. Ein Drama vieler Länder des Kontinents ist jedoch, dass zumindest bis jetzt Initiativen von der Basis für die Stärkung von Resilienzen und Zukunftsperspektiven von Eliten auf übergeordneten Instanzen ignoriert oder konterkariert werden. Es bleibt zu wünschen, dass die Corona-Krise den Anstoß zu einer neuen Allianz zwischen Basisgruppen und Regierenden in den jeweiligen Ländern gibt, welche der unheilvollen Allianz zwischen Letzteren und globalen Machtzentren ein Ende setzt.
[1] Felwine Sarr, Afrotopia, 147
[2] Fewine Sarr, „Wir sprechen uns nach der Krise“: https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-senegal-gesellschaft-1.4869649
[3] https://afrique.latribune.fr/think-tank/tribunes/2020-05-19/crise-et-post-crise-en-afrique-et-si-le-changement-etait-pour-maintenant-847965.html