Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Südafrika in der dritten Corona-Welle

Erst Indien, dann Südafrika: Der Winter bringt eine neue Corona-Welle mit sich, die besonders arme, marginalisierte Bevölkerungsgruppen hart trifft und ihre sozio-ökonomische Resilienz auf die Probe stellt.

Aktuelle Situation

Die Inzidenzwerte sind mit 229 (Stand 7. Juni) zwar hoch, steigen aber derzeit nicht mehr so dramatisch an wie zu Beginn der dritten Welle. Allerdings bedeutet dies konkret, dass sich täglich 19.142 Menschen anstecken, die überwiegende Mehrheit derzeit in Gauteng, dem Wirtschaftszentrum des Landes. Insgesamt verzeichnet Südafrika seit Beginn der Pandemie 2,08 Millionen Infektionen und 62.171 Menschen, die mit und an Corona verstorben sind. Zum Vergleich, in Deutschland sind es 91.118.[1] Südafrika verzeichnet mehr als die Hälfte aller Fälle auf dem afrikanischen Kontinent.

Derzeit hat das Land nur so viele Impfdosen zur Verfügung, um etwa fünf Prozent der Bevölkerung zu versorgen, darunter das Gesundheitspersonal und etwa ein Drittel der über 60-Jährigen. Präsident Cyril Ramaphosa sagte letzte Woche, das Gesundheitssystem des Landes läge am Boden, als er erneut Level 4 ausrief, in dem alle Versammlungen sowie der Verkauf von Alkohol verboten sind. Reisen in oder aus den am schlimmsten betroffenen Gebieten des Landes, wie Gauteng, werden ebenfalls untersagt. Außerdem wurde eine verlängerte Ausgangssperre verhängt und die Schulen wurden wegen der Ferien vorzeitig geschlossen.

Leben vor der Pandemie

63 Prozent der Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren sind arbeitslos. Die Zahlen gehen weit auseinander, in manchen Studien ist die Rede von bis zu 80 Prozent der jungen Menschen unter 36. Viele von ihnen hatten noch nie eine formale Anstellung, obwohl sie meistens einen formalen Schulabschluss besitzen. Sie arbeiten im informellen Sektor oder haben Gelegenheitsjobs. Ein großer Teil dieser jungen Menschen hat noch nie im formellen Sektor gearbeitet und wird dies auch nie tun, da kaum neue Jobs entstehen, zumindest nicht in dem Maße wie es Schulabgänger:innen gibt.

Der informelle Sektor beschäftigt 4,5 Millionen Menschen und trug 6 Prozent (2014) zum Bruttoinlandsprodukt bei.

Südafrika hat ein recht gut ausgebautes soziales Sicherungssystem, doch viele Menschen fallen durch das Netz, und dazu gehören besonders auch junge Menschen.

Nach wie vor ist Südafrika das Land mit einer extrem hohen Einkommensungleichheit (GINI Index 65, 2015).  Dies hat sich auch 27 Jahr nach Ende der politischen Apartheid nicht verändert. Dazu kommt eine hohe Korruptionsanfälligkeit und das Phänomen „State Capture“, das mit der Präsidentschaft Jacob Zumas verbunden und gerade von einer Kommission[2] untersucht wird. Analyst:innen sprechen von Zumas neunjähriger Amtszeit  als verlorenem Jahrzehnt, das auch Präsident Ramaphosa bisher nicht umzukehren vermochte. Die Wirtschaft wächst deutlich langsamer (2018: 0,8%, 2019: 0,2%) und schafft, wie erwähnt, viel zu wenig Stellen für den hohen Bedarf im Land.

Das Gesundheitswesen in Südafrika ist zwar prinzipiell für alle zugänglich, jedoch ist die öffentliche Gesundheitsversorgung, die rund 80 Prozent der Bevölkerung nutzen, denkbar schlecht ausgestattet. Personalmangel und schlechte Bezahlung sind Dauerthema. und eine staatliche Krankenversicherung gibt es nicht. Die wohlhabendsten 20 Prozent der Bevölkerung entscheiden sich daher für eine private Gesundheitsversorgung. Im Global Healthcare Index 2019 liegt Südafrika auf Platz 49 von 89 Ländern.

Der Lockdown und seine sozio-ökonomischen Auswirkungen

Als die Pandemie im März 2020 ausbrach und Südafrika wie alle Länder einen harten Lockdown beschloss sowie seine Grenzen dichtmachte, starben beim Versuch, die Lockdown-Regeln durchzusetzen, zunächst mehr Menschen als durch das Virus. Polizei und Militär gingen rigoros und unverhältnismäßig gegen Menschen vor, die auch nur leicht von der Ausgangssperre abwichen – indem sie vor dem Haus etwa eine Zigarette rauchten – vor. In den dichten Siedlungen der Großstädte war es den meisten kaum möglich sich auch nur annähernd an die Abstandsregeln oder Hygienevorschriften zu halten und doch wurden sie bestraft, wohingegen etwa Jogger am Strand von Kapstadt freundlich auf die Verbote hingewiesen wurden.

Die sozioökonomischen Auswirkungen waren für einen Großteil der Bevölkerung sofort zu spüren, weil durch den Lockdown der informelle Sektor komplett zusammenbrach. Die formale Wirtschaft war zunächst ebenfalls betroffen, doch gab es hier auch viele Berufe, die im Homeoffice ausgeübt werden konnten. Dies betraf wiederum die wenigen sowieso privilegierten Südafrikaner:innen. Internetzugang an sich ist in Südafrika nicht überall gegeben und trotz der vergleichsweise günstigen Angebote für Datenvolumen war die Entscheidung zwischen einer Mahlzeit oder Homeschooling schnell getroffen. Schulschließung bedeutet aber auch, dass die Schulspeisung wegfällt, was den Druck auf die Ernährungssicherheit der Familien noch verstärkte. Die Behausungen sind zum großen Teil nicht dafür geeignet, dass alle Familienmitglieder gleichzeitig tagelang darin festsitzen, und so kam es relativ schnell zu einer deutlich höheren Zahl von häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen innerhalb von Familien. Das wenige Geld, das durch Sozialhilfe oder Renten hereinkam, konnte nicht mit der Preissteigerung im Lebensmittelbereich mithalten. Laut der Pietermaritzburg Economic Justice and Dignity Group (PMBEJD) war die Inflation im Lebensmittelbereich im März 2021 auf 12,6 Prozent gestiegen. Der Warenkorb, den die Organisation monatlich berechnet, ist im vergangenen Jahr um R406 auf R3 627 (240,30€) gestiegen.

Gesundheitswesen in der Pandemie

Die Devise „flatten the curve“ im ersten Lockdown hat auch für Südafrika funktioniert, so dass das Gesundheitssystem in weiten Teilen nicht überrannt worden ist. Aber auch hier kam es durch eine hohe Zahl an Infektionen beim Gesundheitspersonal immer wieder zu Engpässen. Diese wiederum sind dem Mangel an ausreichender Schutzkleidung zu schulden. Colleen Cunningham arbeitet im Gesundheitswesen, ist aktiv in der Partnerschaftsarbeit der Moravian Church und war Teil der Veranstaltung „Our Losses and Gains because of COVID-19“. Dort sprach sie von den dramatischen Auswirkungen auf das Krankenhauspersonal: “And then the 2nd wave was upon us with no warning, no notice, no good morning or good evening, no time to rest and more importantly no time to heal... the trauma of our gaping wounds, became our and still is our daily partners, our stories still requiring listeners. “

Colleen spricht aus der Perspektive der Betroffenen, die allein gelassen wurden. Es gab – wie leider in vielen anderen Ländern auch - keine Investition ins Gesundheitssystem, um etwa für eine weitere Welle oder gar eine Variante gerüstet zu sein. Darüber hinaus mehrten sich auch in Südafrika Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit Geldern, die für die Pandemiebekämpfung vorgesehen waren. In diesem Zusammenhang ist die Suspendierung des Gesundheitsministers Zweli Mkhize zu erwähnen. Für die meisten reicht aber dieses Zeichen der Regierung zur Korruptionsbekämpfung nicht aus, solange es bei einer Suspendierung bleibt, er weiterhin sein Gehalt bezieht und die veruntreuten Gelder nicht zurückgezahlt werden.

Korruption, eine träge, verkrustete und in Bereichen auch ineffiziente Verwaltung, Ermüdung der Öffentlichkeit gegenüber den Beschränkungen und vor allem die sich schneller übertragende Delta-Variante haben die dritte Infektionswelle angetrieben. Gauteng als das wirtschaftliche Zentrum des Landes und eine von neun Provinzen ist wahrscheinlich zwei bis drei Wochen bei den Inzidenzzahlen voraus, Western Cape, Eastern Cape und KwaZulu Natal werden sehr wahrscheinlich folgen. Und das obwohl bei Untersuchungen von Blutspendern festgestellt wurde, dass sich fast die Hälfte der Bevölkerung bereits mit dem Virus infiziert haben könnte.

Impfkampagne und die Frage der Patente

Viele Menschen auf dem afrikanischen Kontinent oder auch Afro-Amerikaner:innen sind zurückhaltend bis skeptisch der westlichen Medizin gegenüber, waren sie doch immer wieder Opfer von Menschenversuchen – nicht zuletzt auch im Apartheid-Südafrika. Daher waren sehr schnell sehr viele fake news über die verschiedenen Impfstoffe im Umlauf, die nicht gerade dazu beigetragen haben, das Vertrauen in die Wirksamkeit zu schüren. Da die ersten beiden Wellen auch eher glimpflich verliefen, war Südafrika sehr spät dran, um sich Impfdosen zu sichern. Erst im Januar dieses Jahres hatte die Regierung begonnen, ernsthaft mit Pharmafirmen zu verhandeln. Inzwischen haben Menschen über 50, Lehrkräfte und Sicherheitspersonal Priorität. Allerdings stellt die Registrierung über Onlineportale wiederum für viele Menschen eine große Hürde dar oder schließt sie gar aus. Auch werdend die Organisation und Planung der Impfkampagne immer wieder bemängelt. Die vorhandenen Impfstoffe waren zunächst von AstraZeneca, dessen Wirksamkeit bei der Delta-Variante, die inzwischen in Südafrika vorherrscht, nicht zweifelsfrei feststeht. Expert:innen gehen aber davon aus, dass für das Brechen der dritten Welle so viele wie möglich wenigstens einmal geimpft werden sollten, egal mit welchem Wirkstoff.

Im Oktober 2020 haben Südafrika und Indien vorgeschlagen, das sogenannte TRIPS -Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums für die Dauer der Corona-Pandemie auszusetzen (Weaver). EU und vor allem auch Deutschland sind dagegen, während die USA sich positiv dazu verhält. Grund dafür ist der Druck von Seiten der Pharmaunternehmen. Sie behaupten, sie hätten Milliardensummen in die Forschung und Entwicklung der Impfstoffe gesteckt und würden durch den Weaver um ihre Gewinne gebracht und jeder Anreiz für künftige Forschungen würde wegfallen. Andreas Zumach schreibt in einem Kommentar in der taz: „Bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts begannen jene Grundlagenforschungen, die über 60 Jahre später die Corona-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna ermöglichen sollten. Sie fanden ausschließlich an Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen statt, die mit Steuergeld finanziert werden: in erster Linie in den USA, in Frankreich und zuletzt an der Universität Mainz. Die heutigen Hersteller von Impfstoffen gegen Covid-19 stiegen erst später ein – Biontech im Jahr 2008, Moderna 2010.“[3]

Derzeit diskutiert die EU-Kommission zum wiederholten Male diese Anfrage und hat inzwischen selbst einen Vorschlag eingebracht, da sie sich nicht dazu durchringen kann, den Weaver zu unterstützen.

Die WHO unterstützt jedoch ein südafrikanisches Konsortium von Pharmaunternehmen beim Aufbau des ersten COVID mRNA-Impfstoff-Technologie-Transferzentrums. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, um Generika zu produzieren, die deutlich günstiger sind als das Original – ein Vorgehen, das bereits bei Pandemien wie HIV/AIDS sehr erfolgreich war und unzählige Leben retten konnte.

Wege aus der Krise

Viele Lösungen, die für die jetzige Krise taugen, sind in der Region schon lange in der Diskussion. Dazu gehört auch die Forderung nach einem universellen, bedingungslosen Grundeinkommen (BIG). Bereits in den 1990er Jahren spielte das BIG eine Rolle bei der Frage, wie die Gesellschaft Südafrikas die durch die Apartheid produzierte Ungleichheit und Ungerechtigkeit beheben will. Doch die Regierung nach 1994 entschied sich für einen Sozialstaat, der die Bedürftigkeit über Auswahlverfahren (targeting) und Konditionalitäten feststellt und eben nicht an alle gleichermaßen ein Grundeinkommen auszahlt. Mit den am Anfang beschriebenen Konsequenzen. Daher war es nicht verwunderlich, dass in der Krise eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung für die Einführung eines BIG entstand. Sie forderten dies besonders für 18- bis 59-Jährige, um eine gravierende Lücke zu schließen, wobei bestehende Sozialleistungen weiter bestehen bleiben sollten. Die Höhe müsse dabei mindestens über der oberen Armutsgrenze (R1 268, 35€ pro Person und Monat) liegen, um nicht nur das bloße Überleben, sondern auch eine Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen.

Der Covid-19 Social Relief of Distress (SRD)-Zuschuss in Höhe von R350 war während der ersten Phase der Pandemie besser als nichts, langfristig aber keine Lösung für die Rückschläge in Ernährungs- und Einkommenssicherheit, die vor allem der Lockdown verursacht hat. Zudem wurde er im April 2021 eingestellt und eine Fortsetzung im neuerlichen Lockdown nicht in Aussicht gestellt, was die 11.4 Million Menschen ohne Einkommen ratlos zurücklässt.

Schlussbemerkung

Wie in fast allen Ländern liegt es auch in Südafrika auf der Hand, dass das öffentliche Gesundheitssystem massiv ausgebaut werden muss, so dass auch ausgebildete Fachkräfte dort bleiben. Dazu gehört auch nach wie vor die Forderung, Korruption zu bekämpfen und vor allem auch korrupte Politiker:innen zu bestrafen, um das Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen.

Keine Frage ist auch die Solidarität sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch unsere im Globalen Norden mit dem Globalen Süden von enormer Bedeutung. Es gab viele Beispiele gerade in armen Bezirken der großen Städte Südafrikas, wo Nachbar:innen so lange teilten, wie sie selbst etwas zu teilen hatten. Schulkinder wurden nach dem aus der Apartheidzeit stammenden Konzept „each one teach one“ so gut es ging unterrichtet. Viele Partnerschaftsbeziehungen wurden wieder oder zum ersten Mal zu Charity-Beziehungen, weil die Not der südafrikanischen Partner:innen so groß war. Dabei war zunächst wichtig, den Hilferuf zu hören, zuzuhören und wahrzunehmen, er verstummt war angesichts des Ausmaßes der Krise. Oft wird unterschätzt, was eine solche Aufmerksamkeit, das Zuhören und das entsprechende Handeln in unseren eigenen Zusammenhängen für Menschen im Globalen Süden bedeuten kann, wie hier bereits ein Heilungsprozess in Gang kommt.

Unser politischer Einfluss mag oft marginal und unbedeutend erscheinen, was die deutsche Zivilgesellschaft aber etwa mit der Initiative für ein Lieferkettengesetz geschafft hat, ist nicht zu unterschätzen. Menschenrechtliche Sorgfaltspflicht entlang der Lieferkette verbindlich für Unternehmen zu regeln, kann Menschen viel Leid ersparen und langfristig Menschenrechtsverletzungen verhindern. Es gilt, Unternehmen stärker reichlich haftbar für ihr Tun zu machen und der Wirtschaft wieder ihren eigentlichen Sinn zurückzugeben, nämlich dass sie zum Wohl der Menschen beiträgt und nicht Gewinnmaximierung im Vordergrund steht.