Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Namibia: Gestohlene Vergangenheit – verhinderte Zukunft

Begleitbroschüre zur Ausstellung Stolen Moments. Namibian Music History Unold.

Wie würde Namibia gesellschaftlich, politisch und sozial strukturiert sein, wenn es den Genozid an den Herero, Nama und Damara nicht gegeben hätte? Wären sie in den verschiedenen Regierungen, die seit der Unabhängigkeit gebildet wurden, stärker vertreten gewesen? Wären sie als Gruppen weniger von Armut betroffen, als sie es heute sind? Wären sie im Besitz von Land geblieben und hätten somit den nachfolgenden Generationen etwas hinterlassen können, auf dem diese hätten aufbauen können? Ähnliche Fragen gelten für den Kontinent insgesamt: Wo stünde er heute, wenn nicht vor, während und nach der Kolonialzeit abertausende Menschen versklavt, verschifft, getötet, ausgebeutet und erniedrigt worden wären? Wenn Kunst- und Bodenschätze nicht geraubt, Natur und Sozialgefüge nicht zerstört worden wären?

Ist es legitim, nach den durch Verbrechen in der Vergangenheit zerstörten möglichen Zukünften zu fragen, sich auszudenken, was hätte sein können?

Ja ist es legitim und sogar dringend notwendig, denn genau darum geht es, wenn Wiedergutmachung, die in vielen mit Kolonialverbrechen zusammenhängenden Kontexten diskutiert wird, ernst gemeint ist.  Nichts kann das wieder GUT machen, was an Menschenleben, Kulturen und Traditionen zerstört wurde. Es wird für immer verloren sein. Es kann bei der Wiedergutmachung nur noch darum gehen, angesichts der Zerstörung Neuanfänge zu ermöglichen und dabei sich an dem zu orientieren, was möglich hätte sein können. Doch genau vor diesen Gedankenspielen haben westliche, ehemalige Kolonialländer Angst. Sie scheuen die Aufrechnung des Schadens, den ihre Taten unter Einbeziehung aller relevanten Gesichtspunkten tatsächlich angerichtet haben. Alles, was bisher an Aufarbeitung, an sogenannter Wiedergutmachung geleistet oder angeboten wurde, ist bestenfalls symbolisch zu nennen und trifft das Ausmaß des angerichteten Schadens nicht mal im Ansatz. Menschenleben kann nicht monetarisiert werden, wohl aber Kulturgüter, natürliche Ressourcen, Besitz, Land und Arbeit. Die Kultur an sich ist ähnlich wie das Leben nur schwer mit Geld objektiv messbar oder gar aufzuwiegen. Wenn Liedgut, Sprachen oder Rituale verloren gehen, wenn Geschichten nicht erzählt und Erfahrungen nicht weitergegeben werden, was passiert mit den nachfolgenden Generationen? Wie gehen sie mit den Lücken um, von denen sie oftmals gar nicht wissen, dass es sie gibt? Was macht das mit einer Gesellschaft?

Deutsch-Südwest fiel bereits während des ersten Weltkriegs in die Hände Südafrikas. Der Völkerbund war weit weg und so konnte die südafrikanische rassistische Regierung nach dem 2. Weltkrieg ihre Apartheidpolitik auf das Nachbarland ausdehnen. Die Auswirkungen auf die Menschen, ihr konkretes Leben und der Ausdruck dessen in Kunst und Kultur ist Thema der Ausstellung: „Stolen moments. Namibian Music History Untold.“ Hier geht es um die in Vergessenheit geratene Musik zwischen den 1950er und 1980er Jahre, die auch nach der Unabhängigkeit weder Anerkennung noch Aufarbeitung erfuhr.

Imagine you had never known about the musical riches of your country until all at once a magnitude of unknown sounds, undiscovered melodies and songs appear. All of a sudden there is this special sound, that elegantly blends your cultural roots with the musical influences of jazz, blues and pop from around the world - creating something unique and yet familiar. With songs of bygone days that recite the history of your homeland and tell the stories of your forefathers, enabling you for the first time to experience the emotions, the joys and inspiration of your ancestors. While you – all through your life - believed that there was nothing but the dull and unfamiliar sounds of country’s former occupants and the blaring church and propaganda songs that were sold to you as your country’s musical legacy.

There are many reasons why you’ve never heard the music I am talking about. As it was censored, suppressed, prohibited and almost made impossible to listen to. Its creators are long gone or have given up on music making, by reasons of adversity, death and despair. And yet this beautiful music exists with a liveliness as if it had never stopped playing. You only have to dig for it. It is still there in the minds of the few who can remember, it is still there with the ones who played it and it is still there on those rare recordings that have survived in archives and record collections scattered all around the globe. How all this came to happen is what we want to tell you.

Mit diesen Worten beschreibt die namibische Kuratorin Aino Moongo den Weg, den sie und ein Team gegangen sind, um diese Ausstellung wahr werden zu lassen: Von der Suche nach noch lebenden Zeitzeug:innen über die Suche nach Bild- und Tonmaterial,  nach finanzieller Unterstützung für die ersten Ausstellungskonzeptionen, die Ausstellungen in Berlin, Basel, Bayreuth und London, jetzt Stuttgart bis hin zur endgültigen Heimkehr als Dauerausstellung nach Namibia sind mehr als zehn Jahre vergangen.

Diese Veröffentlichung will die Ausstellung in einen historischen Kontext stellen. Wir danken der Regierung des Landes Baden-Württemberg, die sich mit der Namibia-Initiative der historischen Verantwortung bewusst ist und mit der finanziellen Unterstützung solcher Projekte dazu beträgt, dass der namibischen Gesellschaft etwas – in diesem Fall ein Stück Erinnerung - zurückgegeben werden kann.