Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Vor Gott alle gleich? Vom Umgang mit Rassismen und kolonialen Kontinuitäten in der Kirche.

Unter dieser Überschrift fand im Rahmen des Katholikentags 2022 in Stuttgart eine von Missio Aachen organisierte Podiumsdiskussion statt. Diese Veranstaltung war eine Fortsetzung einer Abendveranstaltung, die im September 2021 in Aachen im Anschluss an eine Fortbildung der Aachener Hilfswerke durchgeführt wurde.  Damals wie auf dem Katholikentag in Stuttgart war die Konstellation identisch: Die UN-Fellow für die UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft und Promovendin an der Universität Potsdam, Elisabeth Kaneza, die freie Journalistin Tina Adomako und Boniface Mabanza von der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika Heidelberg diskutierten miteinander unter der Moderation von Abdou-Rahime Diallo, der als Berater, Trainer und Fachpromotor für Migration und Entwicklung in Brandenburg arbeitet.

 In ihren Ausführungen erinnerte Elisabeth Kaneza daran, dass die bereits seit Jahrhunderten andauernden Zuschreibungsprozesse sowie die Erfahrungen von Segregation und Gewalt Identitäten und Denkmuster hervorgebracht haben, die leider nicht der Vergangenheit angehören, sondern unsere Gegenwart prägen und nicht mehr geleugnet werden können. Dennoch stellte Elisabeth Kaneza fest, dass die über Jahrhunderte zurückreichende Geschichte von Schwarzen Menschen in Deutschland im kollektiven Bewusstsein kaum präsent ist. Dieses geringe Bewusstsein gilt auch im Blick auf die Zeit der Aufklärung, in der die rassistische Ideologie, die zu einer Herabwertung von afrikanischen und Schwarzen Menschen führte, entwickelt wurde, die aber in Deutschland und im Westen überwiegend positiv besetzt ist. Der Tatsache, dass die Existenz des Antischwarzen Rassismus bisher keine Anerkennung genießt und er nicht im ausreichenden Maß historisch aufgearbeitet ist, wollte und will die UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft (2015-2024) entgegenwirken, indem sie sich für Anerkennung, Gerechtigkeit und Entwicklung einsetzt. Zu Beginn dieser Dekade hatte die UN-Generalversammlung die Mitgliedstaaten aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um einen Beitrag zu deren Umsetzung zu leisten. Viele Länder haben sich lange schwergetan, ihrem Bekenntnis zu dieser UN-Dekade Taten folgen zu lassen. So auch die deutsche Bundesregierung. Erst im Februar 2022 hat die deutsche Bundesregierung eine Koordinierungsstelle zur Umsetzung der UN-Dekade eingerichtet. Diese besteht aus einem Beirat sowie einer Geschäftsstelle, die beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) eingerichtet ist. Der Beirat hat die Aufgabe, Themen und Arbeitsschwerpunkte zur Umsetzung der UN-Dekade festzulegen. Elisabeth Kaneza begrüßte ausdrücklich die Einrichtung dieser Stelle, auch wenn sie viel früher hätte kommen müssen. Dass aber noch viel zu tun ist, zeigte sie anhand vieler Erhebungen, die belegen, wie präsent rassistische Haltungen und Denkweisen in der deutschen Gesellschaft sind, worunter BIPoC und besonders Menschen afrikanischer Herkunft leiden. In diesem Zusammenhang verwies Kaneza auf die #Afrozensus-Onlinebefragung[1], die erstmals die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer, afrodiasporischer Menschen in Deutschland erfasst hat.

Tina Adomako lenkte die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf die Macht der Bilder. Anhand ausgewählter Fotos zeigte sie, wie die in der Kolonialzeit zur Rechtfertigung der Unterdrückung und der Ausbeutung konstruierten Zuschreibungen in der Gegenwart reproduziert werden. Diese Reproduktionen, die die Minderwertigkeit, die Infantilisierung und die Exotisierung Schwarzer Menschen vermitteln, finden sich in der Werbung, in Kinder- und Schulbüchern, im Kino und in Kampagnen humanitärer Organisationen. Besonders Letztere, an denen sich auch kirchliche Organisationen beteiligen, sollen das Bild der weißen Europäer:innen als überlegen und Helfer:innen bestätigen, während Schwarze Menschen als passive und untätige Menschen dargestellt werden, die der gutgemeinten Zuwendung europäischer Organisationen bedürfen. Tina Adomako thematisierte auch die Internalisierung der in Bildern zu findenden Zuschreibungen, die dazu führt, dass es sowohl hier als auch in den ehemaligen Kolonien viele Menschen gibt, die das Problematische an den immer wieder reproduzierten Bildern nicht sehen.

Boniface Mabanza erinnerte in Anlehnung an Tina Adomako daran, dass während die Europäier:innen die Kolonialzeit oftmals als Wohltat, Hilfe und Zivilisierungsmission interpretierten und rechtfertigten, diese Zeit für Afrika und alle Kolonien vielmehr eine Zeit der Zerstörung, ein Gewaltakt und eine Vergewaltigung der Vorstellungswelt der Menschen dort war. Es gibt in Europa heute noch viele Menschen, die darum bemüht sind, dem Kolonialismus etwas Positives abzugewinnen. Sie verweisen etwa auf vermeintliche Errungenschaften in Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. Diejenigen, die so argumentieren, vergessen, dass der Kolonialismus nicht da war, um etwa afrikanische Länder zu entwickeln und die dortigen Menschen zu emanzipieren, sondern um sie zu entmenschlichen und ausbeuten zu können. Wo es vermeintliche Errungenschaften gegeben haben soll, waren diese dem Zufall zuzuschreiben, sie waren im Einklang mit den Zielen der Kolonisierung und vor allem mit deren Methoden: Gewalt, Zwangsarbeit, Rassismus. Dies illustriert die Menschenrechtsbilanz der Kolonialzeit, die mehr als katastrophal ist. So war Kolonisation ein schlechtes und menschenverachtendes System. Dass aus solch einem falschen System etwas vermeintlich Gutes entsprungen sein soll, kann nicht dazu dienen, solch ein System zu rechtfertigen. Dies geschieht im Westen mehrfach bewusst oder unbewusst. In diesem System übernahmen die von Tina Adomako thematisierten Darstellungen der „Anderen“ eine Legitimations-, Entlastungs- und Verschleierungsfunktion gegenüber den ökonomischen und politischen Interessen der Eroberer. Auch die christliche Missionierung spielte bei diesen Funktionen mit. Trotz des Widerstands einzelner Missionare, die progressive Einsichten vertraten, gilt das, was der damalige kamerunische Jesuit Eboussi Boulaga schrieb: „Die Mission ist in der Moderne ein Phänomen der Gewalt. Das Christentum ist weder eine Torheit noch ein Ärgernis, sondern Religion des Herrschers, beherrschende Religion (…). Kolonisierung und Mission sind zwei Spezies (sic) einer gleichen Art.“

Die große Herausforderung besteht darin, dass Kolonisierung nicht mit den formalen Unabhängigkeiten der Kolonien zu Ende ging. Die mit den Dekolonisierungsbewegungen begonnene politische Selbstständigkeit muss für die meisten Länder noch mit Leben gefüllt werden. Ganz am Anfang stehen die Dekolonisierungsprozesse in den Bereichen der Epistemologie, d.h. des Wissens, Wissenssysteme und Kosmovisionen, genauso wie in  der Wirtschaft. Die Kolonisierung lebt in Handelsstrukturen, in der Finanzpolitik, in der Schuldenpolitik, in Währungsvereinbarungen und in entsprechenden Institutionen fort, die dem Namen nach multilateral sind, aber in ihrer Funktionsweise die koloniale Architektur und Logik reproduzieren. Auch die Kirche steht am Anfang ihrer Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus. Koloniale Denkmuster prägen die Begegnungen nach wie vor trotz der sprachlichen Verschiebungen, die etwa im Übergang vom Kolonial- zum Entwicklungsdiskurs und in den innovativen Ansätzen zur Formulierung neuer Ziele für die christliche Mission zu beobachten sind.

Angesichts dieser von Rassismus und Zerstörung geprägten Geschichte, die viel zu lange andauert, sind große Bemühungen und mutige Schritte gefragt, um Beziehungen zu heilen. Zu diesen Schritten gehören Reparationen, die oft auf materielle Leistungen reduziert werden. Letztere sind auch wichtig und notwendig, um in den durch Kolonialismus und Rassismus zerstörten Räumen Lebensförderung zu ermöglichen. Zur Erinnerung: standen der Zugang zu und die Kontrolle von materiellen Ressourcen im Zentrum von Kolonialismus und Rassismus. Aber sie bedienten sich vermeintlicher wissenschaftlicher und religiöser Kategorien.  Auch aus diesem Grund gehören zu Reparationen mehr als rein materielle Leistungen: Es geht darum, die bestehenden Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart, die Begriffe, derer wir uns bedienen, die Institutionen, Strukturen und deren Logiken und Praxen, die die Beziehungen zwischen Menschen aus ehemaligen kolonisierten und kolonisierenden Gebieten prägen, und die Programme, die sich daraus ergeben, aufzubrechen und zu verändern. Nur dadurch wird es allen Menschen ermöglicht als Gleiche behandelt zu werden. Kirchen können aus ihrer Versöhnungslehre schöpfen und einen wichtigen Beitrag dazu leisten.  

Auf die drei Impulse folgte ein reger Austausch, der so spannend war, dass die Veranstaltung um fast eine Stunde verlängert wurde. Diskutiert wurden Fragen bezüglich des Priestermangels in Deutschland und der damit zusammenhängenden vermeintlichen Öffnung gegenüber Priestern aus Afrika, nach unterschiedlicher Behandlung von Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Teilen der Welt sowie nach strukturellem Rassismus. Am Ende stellte Elisabeth Kaneza zurecht fest, dass es gerade mit Blick auf das Thema Rassismus auf das Engagement der:des Einzelnen ankomme: Wenn wir uns nächstes Jahr treffen, so fragte Kaneza, was werden wir uns dann berichten können, was wir gegen Rassismus getan haben? Dabei warnte sie auch vor zu kurzsichtigen Lösungsansätzen. Es reicht beispielsweise nicht aus, dass sich Kirchengemeinden damit begnügen, ihre Räume für muttersprachliche Gemeinden zu öffnen. Dass diese Art von „Öffnung“ bestenfalls in einem Nebeneinander endet, womit die alten Trennlinien in „weißen“ und „anderen“ Kirchen aufrechterhalten bleiben, scheint viele Kirchengemeinden nicht zu stören. Wir brauchen daher Formate, in denen wir verbindliche Schritte zur Dekolonisierung unserer Institutionen definieren. Diese gilt es nun zu entwickeln – gemeinsam. 


[1] https://afrozensus.de/#main