Während der Dienstreise des KASA-Teams dominierte ein Ereignis die politischen Auseinandersetzungen in Südafrika: die vom 16. bis 20. Dezember 2022 durchgeführte 55. Nationale Wahlkonferenz der Regierungspartei African National Congress (ANC). Diese Konferenz hielt ganz Südafrika in Atem, weil niemand voraussagen konnte, wer in die Führungsriege der Regierungspartei gewählt werden würde. Das mit Spannung erwartete Ergebnis wurde von den meisten Südafrikaner:innen mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen, obwohl es sehr weit davon entfernt ist, einen Neubeginn zu ermöglichen. Dies allein zeigt, wie mittlerweile die großen Ideale der einstigen Befreiungsbewegung realpolitisch aufgegeben wurden.
ANC: Ein Skandal nach dem anderen
Ein Schlagwort dominierte die politischen Debatten in Südafrika im Vorfeld der ANC-Nationalkonferenz: Phala Phala. Unser langjähriger Taxifahrer fragte uns schon am Flughafen, ob wir von Phala Phala gehört hätten. Dieses spielt auf den Raub auf der im Phala Phala Naturschutzgebiet gelegene Farm des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa in der Nähe von Bela-Bela in Limpopo, an. Obwohl der Vorfall sich bereits am 9. Februar 2020 ereignete, wurde er erst im Juni 2022 bekannt, als Arthur Fraser - ehemaliger Leiter des südafrikanischen Sicherheitsdienstes und Verbündeter des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma - Anzeige gegen Cyril Ramaphosa wegen Entführung, Bestechung, Geldwäsche und „Vertuschung einer Straftat“ erstattete. Damit bezog er sich auf den angeblichen Diebstahl von 4 Mio. USD Bargeld von Ramaphosas Phala Phala Farm, das in Möbelstücken versteckt gewesen sei.
Wie viel Geld von der Phala Phala Farm genau geraubt worden war, woher es kommt und weshalb es sich dort befand, bleibt unklar. Relevant war bis zum Zeitpunkt der ANC-Konferenz, dass Ramaphosa das Geld nicht deklarierte, was je nach Höhe der Summe eine Straftat darstellen kann. Er selbst behauptete, dass das Geld vom Verkauf von Tieren aus seiner Farm stamme, es sich um einen deutlich niedrigeren Betrag handle, und bestritt jegliches Fehlverhalten. Die vom Parlament eingesetzte Untersuchungskommission kam allerdings zu einem anderen Ergebnis.
Um die Bedeutung, die dieser zigste Skandal in der südafrikanischen politischen Landschaft angenommen hat, einordnen zu können, ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass Südafrika spätestens seit Ende der Legislaturperiode Mandelas von den sich bekämpfenden Fraktionen der Regierungspartei ANC gelähmt wird. Es sind diese internen Kämpfe, die den ehemaligen Präsidenten Thabo Mbeki zu einem abrupten Rücktritt zwangen. Auch sein Nachfolger Jacob Zuma konnte seine zweite Legislaturperiode nicht zu Ende bringen. Unter Zuma erreichte die Korruption unbeschreibliche Dimensionen. Er, seine Berater und seine Alliierten - allen voran die indisch-stämmige Gupta-Familie, die mittlerweile im Exil in Dubai lebt - entwickelten eine raffinierte Strategie zur Vereinnahmung und Ausplünderung lukrativer staatlicher und parastaatlicher Unternehmen. Zur Strategie gehörte es auch, die Steuerbehörde, die nationale Strafverfolgungsbehörde, Geheimdienste und die mit organisierter Kriminalität und Wirtschaftskriminalität betrauten Einheiten der südafrikanischen Polizei mit Zuma-Treuen zu unterwandern, oder bis zur Handlungsunfähigkeit zu schwächen.
Dank engagierter Arbeit kritischer Journalist:innen, NGOs, oder vom Büro der damaligen Ombudsfrau (Public Protector) Thuli Madonsela, wurde ein Skandal nach dem anderen aufgedeckt. Die Auswirkungen der Plünderungen in der Zuma-Legislatur machten sich in der Abnahme der Leistungsfähigkeit von Konzernen wie South African Airways, Eskom, Passenger Rail Agency of South Africa PRASA und Transnet bemerkbar. Unter dem Druck der Öffentlichkeit sahen sich Zuma und der ANC gezwungen, eine als „State Capture“ oder nach dem Namen ihres Vorsitzenden als „Zondo-Commission“ bekannte Untersuchungskommission zuzulassen. Die Arbeit dieser Kommission wurde in Südafrika live übertragen. Ihr Bericht verdeutlichte das große Ausmaß der Verantwortungslosigkeit der ANC-Politiker:innen unter Zuma. Noch vor dem Ende der Arbeit dieser Kommission musste Zuma sein Amt abtreten und machte damit den Weg für Ramaphosa frei. Nicht jedoch, ohne beim Parteitag des ANC 2019 versucht zu haben, seine Ex-Frau und ehemalige Vorsitzende der Kommission der Afrikanischen Union Nkosazana Dlamini-Zuma als Nachfolgerin zu platzieren, um die Aufarbeitung seiner massiven Korruption zu torpedieren. Die Rechnung ging nicht auf, Ramaphosa wurde gewählt.
Ramaphosa versprach, die Korruption zu bekämpfen und den ANC zu erneuern, sah sich aber von Anfang an mit zwei Grundproblemen konfrontiert: zum einen musste er Kompromisse gegenüber der Partei machen und Menschen in sein Kabinett integrieren, die der Korruption bezichtigt wurden; zum anderen ist Ramaphosa selbst als einer der erfolgreichsten Schwarzen Geschäftsleute in Südafrika so verstrickt in die Wirtschaftsstrukturen, dass viele ihm vorwerfen, nur selektiv und halbherzig gegen Korruption vorzugehen, um seine eigenen Geschäftspartner:innen schützen zu können.
Nichtsdestotrotz wurden in Folge der Umsetzung der auf der 54. Nationalen Konferenz des ANC im Jahr 2017 verabschiedete „Step-aside“-Regel mehrere ANC-Mitglieder suspendiert, allen voran ANC-Generalsekretär Ace Magashule, der der Zuma-Fraktion zuzuordnen ist. Es handelt sich bei der „Step-aside“-Regel um eine interne Politik des ANC, die von Mitgliedern, die der Korruption oder anderer schwerer Straftaten beschuldigt werden, verlangt, freiwillig von der Teilnahme an Partei- und Regierungstätigkeiten „zurückzutreten“, oder sie würden suspendiert. Bei der zu Beginn dieses Artikels erwähnten 55. Nationalen Konferenz des ANC wurde diese Regel verwendet, um in Korruption und anderen Straftaten involvierten Mitgliedern bei internen Wahlen die Kandidatur für die Führungspositionen zu untersagen. Vor diesem Hintergrund wurde die ANC-Konferenz also mit großer Spannung erwartet.
Ramaphosa hat überdauert, aber der ANC bleibt gespalten
In allen Gesprächen, die wir mit Vertreter:innen von Partnerorganisationen führte, wurden die Sorge um die Zukunft Südafrikas deutlich. Sogar die Angst vor einer chaotischen Konferenz, die das ganze Land in eine noch größere politische Krise stürzen könne, war spürbar. Mittlerweile ist diese Konferenz Geschichte und die Ergebnisse sind bekannt. Das Wichtigste Resultat: Ramaphosa hat sein politisches Fortbestehen vorübergehend gesichert und konnte seine Machtbasis sogar etwas ausbauen. Das Ergebnis wurde mit großer Erleichterung in Südafrika aufgenommen. Nicht, weil Ramaphosa gute Arbeit bescheinigt, sondern weil er als das kleinere Übel angesehen wird. Sein Scheitern bei dieser Konferenz hätte den Weg für die Anhänger:innen Zumas frei gemacht, die sich bereits in Stellung gebracht hatten. Zwar konnten die Zuma-Anhänger:innen ihr Ziel der Parteiübernahme nicht erreichen, aber sie bleiben weiterhin aktiv. Damit bleibt der ANC auch nach dieser Konferenz eine gespaltene Partei. Die Machtkämpfe innerhalb der Partei lassen wenig Energie und Fantasie für die existenziellen Probleme der Menschen, von denen es mehr als genug gibt.
Während des Aufenthalts in Südafrika besuchten wir diverse Organisationen in Johannesburg, Durban, Pietermaritzburg und Kapstadt, die ein großes Spektrum an Themenschwerpunkten abdecken: Landfrage, Demokratie und Bürger:innenrechte, Bergbausektor, Klimawandel, Konzernmacht, Finanzströme, Arbeitsmarkt, Armutsindikatoren, alternative Wirtschaftssysteme und vieles mehr. Die Gespräche in kleinen Kreisen und der Austausch im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen, die in diesem Zeitraum stattfanden, ermöglichten, den gegenwärtigen Stand in den verschiedenen Sektoren etwas detaillierter wahrzunehmen. Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheiten und Kriminalität sind nicht neu in Südafrika, aber sie haben sich verschärft. Dazu beigetragen haben sowohl globale Faktoren wie der Russland-Ukraine-Krieg und die Corona-Pandemie mit den damit zusammenhängenden Lockdowns, als auch landesspezifische Faktoren wie Korruption. Die Zerschlagung der Staatskonzerne für Privatinteressen wird am Beispiel vom südafrikanischen Stromversorgungsunternehmen Eskom deutlich, das täglich „load sheddings“, also geplante Stromunterbrechungen, durchführt. Diese Stromunterbrechungen des größten Stromerzeugers Afrikas beeinträchtigen nicht nur das Alltagsleben der Menschen, sondern auch die Produktivität von besonders von kleinen und mittleren Unternehmen, die sich Generatoren nicht leisten können. Dies wiederum macht sich etwa im Hinblick auf Nahrungsmittelpreise bemerkbar. Die Klagen über Versorgungsprobleme der Menschen in Hinsicht auf Ernährung, Gesundheit, Sicherheit, Wasser- oder Stromversorgung sind aus fast allen Landesteilen zu hören, weil es überall Marginalisierte gibt.
All diese Probleme gewinnen noch mehr an Brisanz, wenn man bestimmte gesellschaftliche Gruppen betrachtet. Dazu gehören u. a. die Minen- und Farmarbeiter:innen, die auch im Zentrum der Arbeit der KASA stehen. Sowohl Organisationen wie Bench Marks Foundation und Mining Affected Communities United in Action (MACUA), die mit von der Minenarbeit betroffenen Communities arbeiten, als auch diejenigen Organisationen, die Farmarbeiter:innen unterstützen und begleiten, berichteten darüber, dass die Situation bei diesen Gruppen und im ländlichen Raum im Allgemeinen noch besorgniserregender geworden sei. Die Lebensbedingungen der Minenarbeiter:innen und der umliegenden Communities rund um Marikana, sowie der Farmarbeiter:innen in Western Cape, stehen exemplarisch für Südafrikas Widersprüche und explosive Situation.
Weder bei den Farmarbeiter:innen noch bei den Minenarbeiter:innen und deren Communities hatte sich seit der Streiks des Jahres 2012 etwas zum Positiven verändert. Die Streiks, die vielen Toten in Marikana - all dies scheint umsonst gewesen zu sein. Das Gefühl, von Politiker:innen im Stich gelassen worden zu sein, die sich nur um eigene persönliche egoistische Interessen kümmern, ist in Südafrika weit verbreitet. Viele Menschen glauben nicht mehr an die Politik als Mittel der Veränderungen ihrer Lebensbedingungen. Dies ist eine schlechte Nachricht - nicht nur für den ANC und seine Regierungspartner, denen vorausgesagt wird, zum ersten Mal seit der demokratischen Wende im Jahr 1994 ihre absolute Mehrheit und ihren alleinigen Regierungsanspruch zu verlieren - sondern auch für die oppositionellen Parteien, denen es gelingen muss, im 30. Jahr der südafrikanischen Demokratie Menschen zum Wählen zu mobilisieren. Bis zu den Parlamentswahlen haben alle noch ein Jahr Zeit, in dem noch viel passieren kann, darunter entweder eine Verbesserung oder eine Verschlimmerung der Wirtschaftskonjunktur.
Die verheerende Situation in Südafrika offenbart sich auch darin, dass - wie einer unserer Gesprächspartner:innen anmerkte - die Institutionen, die für ein gewisses Korrektiv angesichts des Versagens staatlicher Strukturen sorgen sollten, sich selbst in einer Krise befinden. Sowohl die Kirchen, die NGOs als auch die Gewerkschaften, sehen sich mit großen Herausforderungen konfrontiert. Die Verschlechterung der sozialen Lage im Land verlangt von allen, mehr zu tun als nur ihre traditionellen Aufgaben: Gewerkschaften etwa sind auch humanitäre Agenturen, die brennende Alltagsprobleme lösen müssen; und NGOs, die mit ihnen arbeiten, müssen auch die Funktion von Sozialarbeiter:innen übernehmen, die die oft schwierigen Beziehungen innerhalb der Gewerkschaften heilen müssen. Dies führt dazu, dass ihre eigentlichen Anliegen bezüglich der strukturellen Ursachen der Probleme Südafrikas oft in den Hintergrund geraten. Sie sind so sehr damit beschäftigt, das Feuer an allen Ecken zu löschen, dass die strategische Arbeit in Richtung langfristiger Veränderungen zu kurz kommt.
Darunter leidet auch die internationale Solidarität: Die meisten Organisationen, die wir in Südafrika besucht haben, schaffen es gerade noch, die Probleme auf der lokalen Ebene anzugehen. Zum Nachdenken über die internationalen Verflechtungen, die für die internationale Solidarität relevant sind, kommen sie oft nicht. Dafür bräuchten sie mehr Kapazitäten angesichts der drängenden Alltagsprobleme, die sie nicht bewältigen können, weil oft das Geld dafür fehlt. Diese Herausforderung offenbart eine Notwendigkeit für die Geberorganisationen, bei ausgewählten Organisationen in Ländern wie Südafrika, Kapazitäten für Internationale Solidarität zu schaffen. Diese bleibt wichtig, aber sie verlangt von Organisationen aus dem Globalen Norden, sich die Mühe zu geben, verstehen zu wollen, was die Partnerorganisationen in Ländern wie Südafrika wirklich brauchen, um gegebenfalls die Instrumente der Zusammenarbeit anzupassen. Für einige der traditionellen Partner der KASA käme dies zu spät. Denn einige existieren schon gar nicht mehr, darunter der Ecumenical Service for Socio-Economic Transformation (ESSET) und die Pietermaritzburg Agency for Community Social Action (PACSA). Die Gründe für ihr Verschwinden in einer Zeit, in der sie dringend gebraucht werden, sind vielfältig und komplex. Andere Organisationen kämpfen ums Überleben, weil sie es nicht frühzeitig geschafft haben, sich neu zu erfinden, oder weil ihnen wichtige personelle Stützen abhandengekommen sind, weil diese Arbeit in der besser zahlenden Privatwirtschaft gefunden haben.
Die explosive Situation im Land bietet nichtsdestotrotz auch eine Chance für neue Bewegungen und Organisationsstrukturen. Die Herausforderung für die Solidaritätsarbeit von Seiten des Globalen Norden besteht auch darin, diese neuen Akteur:innen zu identifizieren und zu begleiten. Dies gilt auch für alte, sich in Schwierigkeiten befindende Organisationen, die sich angesichts der neuen Herausforderungen die Mühe geben, sich neu zu erfinden.