Der Constitutional Hill in Johannesburg, ein ehemaliges Gefängnis und Militärfort, „ist ein lebendiges Museum, das die Geschichte von Südafrikas Weg zur Demokratie erzählt. Das Gelände zeugt von der turbulenten Vergangenheit und beherbergt heute das Verfassungsgericht des Landes, das die Rechte aller Bürgerinnen und Bürger vertritt. Constitutional Hill ist auch ein Ort der Gegensätze: von Unrecht und Gerechtigkeit, von Unterdrückung und Befreiung. Unser Gelände zeugt davon, wie wichtig es ist, Stätten der Grausamkeit für die Nachwelt zu bewahren und sie wiederherzustellen, damit sie den Zwecken der Gegenwart und der Gestaltung der Zukunft dienen können.“ So beschreibt es die offizielle Webseite eines der bedeutendsten Gebäude der Stadt, das zu einem wichtigen Anlaufpunkt für Schulklassen und Reisegruppen gleichermaßen wurde.
Wahrscheinlich hatten die Verantwortlichen des Museums bei den Beschreibungen „lebendig“ und „Ort der Gegensätze“ etwas anderes im Sinn als das, was Besucher:innen derzeit erleben. Schon von Ferne kann man rhythmisches Trommeln und einen kontinuierlichen Gesang hören. Am Eingang des Gerichts dann sieht man zunächst Plakate zwischen den Bäumen, die eine Gruppe von älteren Menschen verdeckt. Tourist:innen fotografieren die Gruppe, machen Videos und Selfies, doch sobald eine Person aus der Gruppe mit Infomaterial tritt, wenden sie sich ab. Vielleicht werfen sie noch etwas in die Spendenbox.
Was die Gruppe fordert, steckt schon im Namen „Galela“, das mit „ausschütten“ übersetzt werden kann und sich auf den President's Fund bezieht, der eingerichtet worden war, um den Opfern von Menschenrechtsverletzungen, die während der Apartheid begangen wurden, Reparationen zu zahlen. Doch seit Jahren ist es still um diesen Fonds, der dazu gedacht ist, den anerkannten Opfern und ihren Familien eine einmalige individuelle Summe, Ausbildungsunterstützung, Zugang zu Wohnraum und Gesundheitsfürsorge sowie Rehabilitation der von der Apartheid schwer betroffenen Gemeinden zu leisten. Im März 2022 befanden sich rund zwei Milliarden Rand (94 Mio. Euro) im Fonds. Einmalzahlungen gab es ausschließlich für die 17.000 durch den TRC[1]-Prozess anerkannten Opfer. Davon erhalten rund 4.000 Ausbildungszuschüsse – ebenfalls unverständlich niedrige Summe, wird doch davon ausgegangen, dass jedes der anerkannten Opfer rund vier in Ausbildung befindliche Familienmitglieder hat. Der Zugang zu Wohnraum gestaltet sich schleppend und auch die für die Vielzahl der älteren Opfer besonders wichtige Gesundheitsversorgung wird bislang nicht übernommen.
Die Khulumani Support Group wurde gegründet, um diejenigen zu unterstützen, die bislang nicht auf den offiziellen Listen der Opfer aufgeführt werden und daher keinerlei Ansprüche geltend machen können. Seit über 20 Jahren fordert die Gruppe eine Veröffentlichung der Liste sowie die Möglickeit, sich nach wie vor für die Aufnahme zu qualifizieren . Bereits im Mai 2022 und dann erneut im November/Dezember 2022 protestierten Khulumani-Mitglieder vor dem Constitutional Hill mit einem Sleep-in. Kurz vor Weihnachten dann fuhren sie nach Hause (wir berichteten), weil ihnen ein Treffen mit hochrangigen Vertreter:innen der Regierung für Januar 2023 zugesichert worden war. Doch dieses Treffen kam nicht zustande. Fast ein Jahr lang versuchte die Gruppe, Kontakte mit offiziellen Angestellten des Justizministeriums sowie des Präsidialamtes aufzubauen. „Wir fordern nach wie vor, dass unser Präsident, die Regierung und der Justizminister auf unsere Forderungen eingehen, andernfalls werden wir weiter protestieren", sagt Judy Seidman, die Vorsitzende von Khulumani. Im November 2023 kehrten sie zurück. Bei jedem Wetter – und das kann in Johannesburg von eisigem Regen bis stechender Sonne alles sein – verbringen sie die Tage auf den Stufen zum Eingang des Verfassungsgerichts und schlafen auf dem Boden um die Ecke im Freien. Immerhin haben sie Zugang zu den öffentlichen Toiletten des Gerichts.
So treffe ich sie Anfang Februar. Ich hatte mich mit unseren langjährigen Partnerinnen und Freundinnen Judy Seidmann und Nomarussia Bonase, mit denen wir die Kampagne für Entschädigung der Marikana Witwen zusammen organisieren, verabredet. Es war äußerst beeindruckend, die Energie und Unermüdlichkeit, mit der die etwa 30 älteren Menschen dort singend und betend den Tag verbringen, zu beobachten. Gemeinsam mit der Künstlerin und Aktivistin Judy Seidman haben sie die Plakate gestaltet, die ihre Geschichte und ihre internationale Solidarität – im aktuellen Fall zur Situation in Palästina – zum Ausdruck bringen. Nomarussia stellt mich der Gruppe vor, erzählt von unserem gemeinsamen Weg und bittet weitere Mitglieder, ebenfalls das Wort an mich zu richten. Das ist sehr bewegend, denn auf diese Weise wird deutlich, was dieses große Wort „Solidarität“ im Alltäglichen, in kleinen Gesten bedeutet. Sie betonen, wie dankbar sie für die Aufmerksamkeit sind, dass ich bei ihrem Gebet ebenfalls stehen geblieben bin, mitgebetet habe. „Das hat mich zum Weinen gebracht vor Dankbarkeit“, sagt mir eine Frau, die mit ihren Krücken kaum stehen kann. „Das gibt uns Kraft, weiter durchzuhalten, wenn wir wissen, dass wir nicht allein sind!“ So bekräftigte ein Mann aus der hinteren Reihe.
Heute sind die Demonstrierenden besonders aufgeregt, denn der Oberste Richter Raymond Zondo hatte ihnen persönlich versprochen, eine Klärung herbeizuführen und sich bis zum morgigen Dienstag zu melden. Der Dienstag ist verstrichen, so auch die nächste Woche, ohne dass er sein Versprechen eingelöst hätte. Dies geschieht nicht zum ersten Mal: „Wir werden in ein paar Tagen eine Antwort für Sie haben"… „Wir werden den Minister dazu bringen, zu kommen und Ihnen zuzuhören"… „Am Dienstag werden Sie eine Antwort haben"... Über Monate hinweg haben sie diese Versprechen gehört, keines davon wurde eingehalten. Auch dieses Mal nicht.
Und so sind sie geblieben auf den Stufen, bis die Situation Ende Februar eskalierte, als die Verwaltung des Gebäudes immer öfter mit Sicherheitspersonal und unterschiedlichen Androhungen ersucht hatte, sie zu vertreiben. Das ging so weit, dass die Khulumani-Mitglieder die Toiletten nicht mehr benutzen oder bei starkem Regen das Gebäude nicht mehr betreten durften. Die Polizei wurde gerufen, um sie zu vertreiben. Zunächst zögerlich, weil es sich um ältere Menschen handelt, sind sie dann doch handgreiflich geworden und haben versucht, die Demonstrierenden mit Gewalt hinauszutragen. Dabei sind einige verletzt worden und mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Sie letztendlich zu vertreiben wird ihnen nicht gelingen, so viel Kampfeskraft wie in diesen Menschen steckt, die als Opfer von Apartheidverbrechen anfingen und sich heute als mündige Bürger:innen öffentlich zeigen, die ihre Rechte kennen und für diese einstehen:
„Unsere Mitglieder sind nach wie vor entschlossen, so lange auf dem Constitutional Hill zu bleiben, bis das Präsidialamt auf unsere Forderungen eingeht, sich mit diesen offenen Fragen zu befassen – wie es in den letzten Jahren mehrfach versprochen wurde. Wir sind auch entschlossen, eine Beschwerde gegen diejenigen einzureichen, die uns offenbar das Recht verweigern wollen, dort zu protestieren, und die in der Tat bereit sind, unsere Gesundheit und unser Wohlergehen zu gefährden, um die Fortsetzung des Protestes zu verhindern; die uns den Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen verweigern, insbesondere den Zugang zu öffentlichen Toiletten und Wasser, und die eine Sprache benutzen, die unsere Würde beleidigt. Wir sind der Meinung, dass das Verfassungsgericht ein Symbol unseres Kampfes für Demokratie und Gleichberechtigung ist, und dieses aggressive Verhalten gegenüber Bürger:innen, die friedlich und rechtmäßig versuchen, mit der Regierung in Kontakt zu treten, darf nicht fortgesetzt werden.“
[1] Wahrheits- und Versöhnungskommission - Truth and Reconciliation Commission