Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

KASA Online Book Launch: Marikana – eine offene Wunde

Das Massaker von Marikana am 16. August 2012 erschütterte nicht nur die südafrikanische Gesellschaft, sondern auch die, die sich in Europa solidarisch mit Südafrika beschäftigen. Erinnerte doch dieses Blutbad an die dunkelsten Kapitel der südafrikanischen Apartheid wie etwa das Massaker von Sharpeville 1960 und die Niederschlagung des Jugendaufstands von Soweto 1976.

Unbegreiflich an diesem neuen, dramatischen Ereignis war, dass in Marikana nicht ein Unrechtsregime, sondern die demokratisch legitimierte Regierung unter Führung der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC die Untaten geschehen ließ. So wurde „Marikana“ zu einer Zäsur für die südafrikanische Demokratie, weil sie die „toxische Mischung von Staat und Kapital“ offenbarte.

Bischof Jo Seoka kämpft gemeinsam mit der Plough Back the Fruits Kampagne seit 2015 vor allem auch bei BASF um Entschädigung für die Hinterbliebenen. In seinem jetzt auf Deutsch veröffentlichten Buch erzählt er aus persönlicher Sicht von den schrecklichen Ereignissen um den 16. August 2012, in die er eher zufällig hineingeraten war. Eine englische Version soll noch vor dem Jahrestag am 16. August erscheinen.

Bischof Seoka erklärt zu Beginn, dass er sein Buch als Augenzeugen- und persönlichen Erfahrungsbericht über die Ereignisse rund um diesen besonderen Tag versteht. „Ich habe nicht nur mit dem Management, den Direktoren, gesprochen, sondern auch mit der Polizei vor Ort.“ Bischof Seoka von der Anglikanischen Kirche und seinerzeit Präsident des Südafrikanischen Kirchenrates, war als Bischof für die Region Marikana zuständig und empfand auch deshalb eine „persönliche Verantwortung“, sich um „die sozioökonomischen Bedürfnisse der Menschen in diesem Gebiet zu kümmern.

Darum auch werden im Mittelteil seines Buches die 34 Verstorbenen persönlich vorgestellt – mit Foto, Namen und Kurzbiografie. Weil sie, so Moderatorin Simone Knapp von der KASA, vor dem Vergessen bewahrt werden sollen. „Das ist eine Arbeit der Liebe und ein Werk der Solidarität“. Seoka ergänzt, „die Namen zu nennen“ sei auch ein Anliegen der Witwen: „Sie waren den Verstorbenen ja körperlich verbunden und hatten mit ihnen über ihre Erfahrungen gesprochen. Ihnen war es sehr wichtig, die Namen und Fotos zu zeigen. Das hat auch mit einem afrikanischen Verständnis von Abschied zu tun: Die Erinnerung der Verstorbenen, ihre Sprache, ihr Leben setzt sich in der Erwähnung der Namen fort; die Erzählung von ihnen wird lebendig gehalten. Die Bilder sollen es den Überlebenden ermöglichen, sich mit jenen zu identifizieren, die zufällig dieser gefährlichen Situation ausgesetzt waren und gestorben sind.“

Miserable Entschädigung

Nicht alle betroffenen Opfer oder ihre Familien wurden entschädigt, berichtet Bischof Seoka. Einige Witwen hätten ein wenig Geld erhalten. Außerdem habe Lonmin ihnen Arbeitsplätze (auch unter Tage) angeboten, um die Löhne der Verstorbenen zu „ersetzen“. „Wenn Sie mit diesen Witwen sprechen, erzählen sie, dass sie bei der Arbeit ständig an das Massaker und den Tod ihrer Männer erinnert werden. Einigen Kindern zahlt das Unternehmen Schulgeld. Der große Nachteil dieser Wiedergutmachung sei aber, dass das landwirtschaftlich genutzte Land der Frauen brachliege. Diese hatten ja „die Familien damit subventioniert“. Und dann schlägt der Bischof vor: „Ich persönlich würde versuchen, Solidaritätsbewegungen dafür zu gewinnen, nach Südafrika zu kommen und die Witwen in Workshops darin zu schulen, wie sie das brachliegende Gelände wieder nutzbar machen können. „Das würde das Leben dieser Gemeinschaften und das Leben ihrer Kinder positiv verändern und ihnen die Zuversicht geben, dass das Land immer noch produktiv ist und dass sie damit ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten können.“

Auch nachdem der südafrikanische Bergbaukonzern Sibanye-Stillwater im Jahr 2018 Lonmin übernommen hatte, änderte sich wenig. Die Hinterbliebenen hatten eine Gedenkstätte an das Massaker gefordert und nachhaltige Entwicklung in den Wohngebieten. Aber am Ende wurden nur ein paar Gemüsegärten finanziert. Zwar hatte Sibanye-Stillwater zum Beispiel im Township Nkaneng versprochen, die Infrastruktur zu verbessern. Als der Bischof im Juni dieses Jahres dort war, erfuhr er aber, dass nichts geschehen war: Weder wurde das Straßennetz ausgebaut, noch wurden die Straßen geteert und beleuchtet und vielen Bewohnern fehlt immer noch der Zugang zu Trinkwasser. Die Lebensqualität sei miserabel wie eh und je. „Die Kinder sterben an Hunger. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Und immer noch fehlen Arbeitsplätze für die jungen Leute – das war damals einer der Gründe für den Streik! Nach wie vor kommen die Arbeitskräfte aus den ehemaligen Homelands, weil sie billiger sind.“ In einem Workshop des Bischofs bestätigten die Menschen zehn Jahre nach dem Massaker, dass sich das Unternehmen nach wie vor nicht entschuldigt habe. „Der Gerechtigkeit wurde nicht Genüge getan.“ Auch seien die Sibanye-Stillwater-Minen nach wie die Orte mit den meisten Todesfällen unter Tage – eine Befürchtung, die sich schon vor der Übernahme aus den Erfahrungen in den Goldminen des Unternehmens speiste.

Gleichzeitig habe Konzernchef Neal Froneman vor kurzem  300 Millionen Rand (17 Millionen Euro) an Gehältern und Bonuszahlungen erhalten. „Das ist obszön. Dagegen ist der Sozialplan ein Nichts.“

Auch der heutige südafrikanische Präsident (und ehemalige Gewerkschaftsführer) Cyril Ramaphosa, der 2012 im Aufsichtsrat von Lonmin saß und zumindest indirekt an dem gewaltvollen Vorgehen gegen die Streikenden beteiligt war, hat sich bis heute weder bei den Witwen noch bei der Öffentlichkeit entschuldigt, erzählt Bischof Seoka weiter. „Wenn er das getan hätte, hätten die Betroffenen nicht darauf bestanden, ein Verfahren gegen ihn zu eröffnen.“

Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof in Johannesburg am 4. Juli 2022 den Präsidenten direkt mit der Ermordung der Bergarbeiter von Marikana 2012 in Verbindung gebracht. Auch wenn eine geheime Absprache zwischen dem Staat, dem Arbeitgeber und Ramaphosa nicht nachgewiesen werden kann. Das bedeutet, dass der Präsident persönlich für das Massaker von Marikana verantwortlich gemacht werden kann.

Demokratie in Südafrika?

„Die Hoffnungen der Menschen nach der Abschaffung der Apartheid 1994 sind zu Albträumen geworden“, sagt Bischof Seoka und zählt auf: Die Armen sind noch ärmer geworden, während eine Handvoll Leute Milliardäre sind. Menschen müssten hungern; die Bergleute hätten bisher keinerlei Besserungen erhalten, „außer Leid und Leere“. Viel gute Arbeit hätten korrupte Politiker:innen zunichtegemacht. Derzeit gebe es immer mehr Straßenkinder, die Arbeitslosigkeit nehme zu, vor allem unter den Jugendlichen. „Wenn man sich nicht um sie kümmert, besteht die Gefahr einer weiteren gesellschaftlichen Explosion.“ Seoka nennt ein schreckliches Beispiel für die Verschlechterungen: 2012 sei auf Ntombifikile Mthethwa bei den Protesten auf dem Koppie mit einem Gummigeschoss geschossen worden. Im Juni diesen Jahres wurde sie mit scharfer Munition erschossen.

Simone Knapp fragt nach der staatlichen Untersuchungskommission unter Vorsitz von Richter a.D. Ian Farlam, die das Massaker von Marikana drei Jahre lang untersucht und Empfehlungen ausgesprochen habe. Wurden danach mögliche Täter aus der Regierung und der Polizei zur Rechenschaft gezogen?

Nein, so Seoka, bisher wurde keiner der von der Kommission Genannten verhaftet oder strafrechtlich verfolgt. „Und diese Bemühungen während der letzten Monate, Gründe für eine Anklage festzustellen, werden all diese Polizeipersonen und einige aus der Unternehmensleitung in der Öffentlichkeit entkräften. Während vor allem Arme kaum Zugang zur Gerichtsbarkeit, zu Recht und damit Gerechtigkeit haben. Trotz der wunderbaren Verfassung Südafrikas.“ Während noch heute Bergarbeiter wegen der Gewalt in Marikana im Gefängnis säßen, sei kein einziger Polizist verhaftet worden.  Die streikenden Bergleute seien angeklagt worden, weil „die Polizei schießen musste“. Obwohl man heute wisse, dass einige dieser „hochrangigen Polizisten“ in Sicherheitsfirmen der Minen beschäftigt waren. „Was bedeutet es für die Zeug:innen, die einen Mann identifizieren können, der in das Massaker verwickelt war und der jetzt Sicherheitschef in der Minengesellschaft ist? Ich möchte also noch einmal betonen: Es gibt noch viel zu tun.“

Solidarität: „Es gibt noch viel zu tun!“

Gerne erinnert sich Bischof Seoka daran, wie er zusammen mit der Plough back the Fruits Kampagne - zu der neben der KASA auch die Kritischen Aktionär:innen, Brot für die Welt, Rosa Luxemburg-Stiftung  und einige Einzelpersonen gehören - herausfand, dass BASF zum Zeitpunkt des Massakers der größte Abnehmer des Platins aus Lonmin war. Also besuchte er gemeinsam mit deutschen und südafrikanischen Aktivist:innen seit 2015 regelmäßig die Aktionärsversammlungen von BASF in Mannheim, um Aktionär:innen und Investoren über die wahren Vorfälle und Hintergründe zu informieren. Diese wussten lediglich, dass BASF mit einem Unternehmen in Südafrika zu tun hatte, wo ein Massaker stattgefunden hatte. Bischof Seoka konnte mit Unterstützung des London Mining Network und einigen Universitäten auch in England. So funktionierte „Spread the news!“ in Europa.

Aber die Bergleute warten immer noch auf bessere Löhne, erzählt Seoka. Ein ausgebildeter Arbeiter erhielt 2019 umgerechnet rund 800 Euro (13.893 Rand) pro Monat. Verglichen mit 2012, als die Bergleute für 12.500 Rand (1.252,86 EUR) streikten, ist das heute wegen des großen Wertverlustes der südafrikanischen Währung sehr viel weniger.

Gerade vor einem Monat sind die Beschäftigten wieder in einen Streik getreten. Sie forderten 1.000 Rand (57,30 EUR) mehr Lohn. Man bot ihnen 800 Rand. „Da sind sie losgezogen und haben vor dem Sitz des Präsidenten in Pretoria ihre Protest-Zelte aufgeschlagen,“ erzählt Seoka.

Südafrikanische Kirchen

Es sei immer wichtig gewesen, dass ein Mann der Kirche auf den Aktionärsversammlungen dabei war und auch eine Rede hielt, sagt Simone Knapp, und fragt nach der Rolle der südafrikanischen Kirchen…

Bischof Seoka erinnert zunächst daran, dass das Massaker gar nicht erst geschehen wäre, wenn das Unternehmen und der Staat die Forschungsarbeit der Bench-Marks Foundation, in dessen Vorstand er sitzt, ernst genommen hätten. „Wir haben seinerzeit vorausgesagt und Lonmin daraus hingewiesen, dass es wahrscheinlich einen großen Streik geben wird, der zu Todesfällen führen kann. Niemand hat uns zugehört.“ Die Stiftung ist eine kirchennahe Organisation, die vor allem in den Bergbaugemeinden tätig ist und den Bewohnern hilft, sich zu wehren und für ihre Rechte und eine bessere Lebensqualität zu kämpfen. Aber viele Kirchenführer:innen seien von den Unternehmen kooptiert und benutzt worden, um die angeblichen Verbesserungen durch die Unternehmen zu propagieren. Dabei seien den Arbeiterfamilien lediglich Gemüsegärten finanziert worden – statt etwa eine nachhaltigere Nahrungsmittelproduktion zur langfristigen Ernährungssicherheit aufzubauen. „Einige unserer Kirchenführer sind sehr schnell bereit, sich auf die Seite der Arbeitgeber zu stellen und deren Sprache zu übernehmen. Und auf Kundgebungen der Arbeiter:innen sind sie nirgends zu sehen. Ich schlage vor, dass die Kirchen ihren Dienst an den Arbeitnehmer:innen überdenken müssen. Vielleicht ist die Idee von ‚Arbeiterpriestern‘ (Industriepfarramt, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) richtiger als reine Seelsorge. Denn ein solcher engagiert sich in den Fabrikhallen und teilt das Leben der Arbeiter:innen und ihre mutige Gesprächskultur.“

Simone Knapp bekräftigt: „Ja, es liegt an uns, nicht nur Solidarität zu zeigen, sondern auch zu handeln und Möglichkeiten für kreatives Handeln und kreativen Kampf zu finden.“ Das sei während der COVID-Pandemie viel schwieriger gewesen, etwa Aktionär:innen und das Management zu kontaktieren. „Wir werden also auch unsere eigene Arbeit neu erfinden müssen.“

Der Kampf gehe weiter

Die Witwen aus Marikana und ihre Kinder brauchen Unterstützung. Dem stimmt die nun zugeschaltete Künstlerin Judy Seidman unbedingt zu. Diese Botschaft habe sie auch von den Witwen und anderen Familienmitgliedern gehört. Die Bemühungen der Regierung hätten nicht wirklich zu einer Wiedergutmachung geführt; auch nicht die Arbeitsplätze für die Witwen oder ein Familienmitglied der Geschädigten. Die Löhne seine geringer als die, wofür ihre Männer gekämpft hätten. Und wie bereits gesagt, hätten die Frauen ihre Möglichkeiten verloren, mit ein paar Tieren und ein wenig Landwirtschaft zum Wohlergehen der Familien beizutragen. Viele Familien seien zusammengebrochen. „Mehrere Kinder, die man in Internate geschickt hatte, haben Selbstmord begangen Das ist entsetzlich.“ Es sei an der Zeit, dass die Zivilgesellschaft dies alles wieder auf ihre Tagesordnung setzte. „Wir können nicht zugelassen, dass es so weitergeht.“

Bei alldem gehe es weniger um Geld als um Würde, ergänzt Bischof Seoka. Die Witwen der Getöteten seine wütend und enttäuscht. Sie brauchten einen sicheren Lebensunterhalt. „Deshalb ist die Frage der Entschuldigung für sie so wichtig. Denn alles, worauf sie hinweisen, ist genau das, was Judy gesagt hat. Es wurde nichts Konkretes unternommen, um die Vergangenheit wiedergutzumachen. Wir dürfen also nicht voreilig sein und denken, dass die Menschen verziehen haben, dass die Menschen in Frieden leben. In Wirklichkeit gibt es mehr Wut als alles andere…“

Beim letzten Alternative Mining Indaba entstand eine Gesprächsrunde, in der das Management von  Anglo-American mit Delegierten aus Bergbau-Gemeinden miteinander diskutieren sollen. „Und ich bin Teil dieser Diskussion“, sagt Bischof Seoka. Es gehe darum „miteinander zu reden und zu verstehen, was getan werden kann.“ Natürlich sollten auch weitere Bergbauunternehmen erreicht werden. „Aber wir sind dankbar für diese Initiative von Anglo und diesen neuen Ansatz. Gespräch ist wichtig, weil die Dinge gelöst werden, indem man miteinander spricht. Solange wir miteinander reden, können wir die Probleme verstehen und zusammenarbeiten.“ Das bedeute für die Solidaritätsbewegung, „dass wir nicht ruhen dürfen, bis wir Gerechtigkeit erreicht haben für die, die nach dem Marikana Massaker so viel erlitten haben. Bis die Witwen sagen können: Wir sind dankbar dafür, dass der Tod unserer Ehemänner nicht vergebens war. Jetzt können sie in Frieden ruhen.”

„Es ist eine Ehre für uns, das tun zu können,“ antwortet Simona Knapp. Darum sollten so viele Menschen wie möglich das Buch von Bischof Seoka lesen. Deshalb stehe es auch kostenlos und online zur Verfügung. Zusätzliche Spenden würden der Solidaritätsarbeit von Plough Back the Fruits für die Witwen zukommen.

„Wir hoffen, dass wieder einige der südafrikanischen Zeug:innen an einer in Präsenz stattfindenden der BASF Jahreshauptversammlung im nächsten Jahr teilnehmen werden, so dass wir die Wahrheit der Macht der Unternehmen entgegenhalten können.